
Gemeinsam statt einsam: Wie wollen wir in Zukunft leben?
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- 25. April 2025
Wohngemeinschaften sind hauptsächlich als Lebensformen von Studierenden bekannt: gemeinschaftlich, günstig, oft chaotisch. Doch das Konzept entwickelt sich weiter – und gewinnt generationsübergreifend an Bedeutung. change hat nachgeforscht, welche Rolle die WG in der Zukunft spielen könnte.
Unser Wunsch nach Gemeinschaft trifft auf eine Wohnungswirtschaft, die unter Druck steht. Es gibt zu wenig Wohnraum, die Mieten steigen überall und der demografische Wandel ist in vollem Gange. Aber es gibt noch einen weiteren Faktor, der uns als Gesellschaft beschäftigt: Immer mehr Menschen jeden Alters fühlen sich einsam - könnten neue gemeinschaftliche Wohnkonzepte die Lösung gegen die kollektive Vereinsamung sein?
Wenn Wohnen einsam macht
Laut dem Einsamkeitsbarometer des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (BMFSFJ), kennt ein Großteil der Deutschen das Gefühl der Einsamkeit. Gerade die Wohnsituation verstärkt diese Entwicklung. Immer mehr Menschen leben allein, arbeiten in einer zunehmend digitalisierten Welt von zu Hause, lassen sich Lebensmittel liefern, halten mit Freund:innen nur noch online Kontakt und verbringen ihren Alltag so zunehmend isoliert.
Während also im Jahr 2017 nur rund acht Prozent der Befragten in Deutschland von Einsamkeit berichteten, stieg dieser Wert bis 2020 auf fast 30 Prozent. Natürlich ist diese Entwicklung vor dem Hintergrund der Corona-Pandemie zu verstehen, aber spätestens 2021 war für viele klar: Eine Veränderung muss her. Aktuelle Daten deuten nämlich darauf hin, dass dieses Niveau nach der Pandemie nur geringfügig gesunken ist.
Vom Mehrgenerationenhaus zum anonymen Wohnen
Obwohl wir uns längst wieder unbeschwert unter Menschen bewegen können, fehlt vielen das Gefühl echter Verbundenheit. Das liegt unter anderem an unseren modernen, urbanen Wohnformen. Denn heute lebt nicht nur die klassische Kleinfamilie allein. Wer es sich leisten kann, wohnt auch als Single in seinen eigenen vier Wänden – und das oft so anonym, dass man die Nachbar:innen nicht einmal mit Namen kennt.
Unsere heutige Vorstellung vom Wohnen – möglichst privat, möglichst unabhängig – ist historisch gesehen eine Ausnahme. Noch vor wenigen Jahrzehnten war es selbstverständlich, als Familie mit mehreren Generationen unter einem Dach zu leben. Klar ging man sich auch mal gegenseitig auf die Nerven, aber die heute so verbreitete Einsamkeit haben viele Menschen damals nie kennengelernt. Zum Glück ist unsere Erinnerung an diese Zeit noch nicht ganz verblasst, denn genau daran knüpfen aktuell viele Wohnprojekte an.
Nachbarschaft neu gedacht
In Berliner Mehrgenerationenhäusern wohnen junge Familien, Alleinstehende und Senior:innen Tür an Tür. In Freiburg entstehen Wohnhöfe mit geteilten Gärten, Gemeinschaftsküchen und Werkstätten. Und in Bremen geht die Genossenschaft StadtWeltRaum mit ihrem Cluster-Wohnprojekt noch einen Schritt weiter.
Petra Schultz-Adebahr ist Soziologin und Mitbegründerin des Projekts. Sie und die anderen Mitglieder der Genossenschaft hatten Lust auf eine lebendige Nachbarschaft, die über die beiden Gemeinschaftshäuser hinausgeht. Ihre Ideen von Partizipation und Teilhabe trugen sie deshalb nach draußen auf die Straße. Wer durch den Stadtteil spaziert, stößt auf eine bunt umhäkelte Straßenlaterne und ein stets gut bestücktes Büchertauschregal, das zum Stöbern einlädt. Daneben lagern gerettete Lebensmittel – wer vorbeikommt, kann mitnehmen, was er oder sie braucht. Solche Projekte sind mehr als nur Wohnlösungen – sie schaffen soziale Räume, die der Einsamkeit im Alltag aktiv entgegenwirken.
Solidarische Beziehungen: Das Miteinander will gelernt sein
Gemeinschaftliches Wohnen ist damit ein Gegenentwurf zur Vereinzelung in der modernen Gesellschaft. Allein in Bremen gibt es über 40 solcher Wohnprojekte. Ein gelungenes Projekt schafft Raum für ehrliche, warme und solidarische Beziehungen, gerade, wenn Menschen mit ganz unterschiedlichen Lebenserfahrungen aufeinandertreffen.
Damit das gelingt, braucht es mehr als nur gute Absichten. Wer zusammen lebt, muss bereit sein, Kompromisse einzugehen – etwa bei der Nutzung gemeinsamer Räume, bei alltäglichen Entscheidungen oder im Umgang mit Konflikten. Für den Bremer StadtWeltRaum bedeutet das ganz konkret, das “Wir” in den Vordergrund zu stellen, ohne das “Ich” aufzugeben. Die Erfahrung zeigt: Wer sich zugehörig fühlt, lebt gesünder, zufriedener und oft auch länger.
Gemeinschaft heißt auch Verantwortung übernehmen
Aber nicht nur im Zusammenleben selbst, auch im Vorfeld ist Engagement gefragt. Schließlich ist es mit erheblichem Aufwand verbunden, ein solches Projekt auf die Beine zu stellen. Neben der internen Organisation haben die Projektverantwortlichen auch mit bürokratischen Hürden zu kämpfen: Grundstücksfragen, Förderanträge, Abstimmungen mit Behörden oder die Gründung einer Genossenschaft erfordern viel Zeit, Durchhaltevermögen und juristisches Know-how. Gemeinschaft entsteht also nicht von selbst – sie wächst aus Initiative, Struktur und der Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen.
Das Interesse an gemeinschaftlichem Wohnen ist groß
Bei der Gründung von StadtWeltRaum brachte Petra Schultz-Adebahr viel eigene Lebenserfahrung mit, aber auch die Expertise anderer war wichtig: „Es sollten immer verschiedene Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen zusammenkommen“, erklärt sie. „Bauen ist wahnsinnig komplex und die Gruppen zu moderieren ist auch nicht ohne. Da ist es gut, wenn jemand dabei ist, der damit Erfahrung hat.“ Deshalb gibt es immer mehr professionelle Baubetreuer:innen und in vielen Städten ist eine solche Begleitung den Projekten bereits vorgeschrieben.
Trotz der organisatorischen und sozialen Herausforderungen ist das Interesse am gemeinschaftlichen Wohnen ungebrochen. Städte, Architekturbüros und soziale Träger erkennen zunehmend das Potenzial dieser Projekte – nicht nur für das Miteinander, sondern auch für eine nachhaltigere Stadtentwicklung. Denn gemeinschaftlich genutzte Flächen sparen Ressourcen und schaffen dort Wohnraum, wo klassische Konzepte an ihre Grenzen stoßen – und zwar im Idealfall mit Blick auf den gesamten Stadtteil.
Das Potenzial der Gemeinschaft
In einer Zeit, in der Individualisierung und Vereinzelung längst nicht mehr nur Schlagworte, sondern echte Lebensrealitäten sind, bietet das gemeinschaftliche Wohnen eine ermutigende Perspektive. Es zeigt, dass Gemeinschaft kein Auslaufmodell, sondern ein Zukunftskonzept ist. Denn längst geht es nicht mehr nur um alternative Lebensstile, sondern um tragfähige Antworten auf gesellschaftliche Fragen: Wie wollen wir in Zukunft wohnen? Wie können wir das soziale Miteinander stärken und uns vor der Vereinsamung schützen?
Die Zukunft lebt zusammen
Sei es in Form von Mehrgenerationenhäusern, gemeinschaftlich geplanten Neubauprojekten oder kreativen Zwischennutzungen: Die Bereitschaft, Wohnen anders zu denken, wächst. Und vielleicht zeigt sich gerade darin das wahre Potenzial des gemeinschaftlichen Wohnens: dass es nicht nur Wohnraum bietet, sondern ein verbundenes Miteinander ermöglicht.
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