Dieses Dorf hat genau das, was dir in der Großstadt fehlt
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Priscilla Du Preez – unsplash.com/license
- 22. Dezember 2020
Was wäre, wenn du urban leben könntest – nur eben auf dem Land? Dass das funktionieren kann, zeigt ein smartes Gemeindekonzept: change hat dem KoDorf Wiesenburg schon im Januar einen Besuch abgestattet. Seine Botschaft ist gerade jetzt im zweiten Lockdown aktueller denn je.
Dass sich in Großstädten viele Menschen einsam fühlen, war schon vor der Pandemie ein belegtes Phänomen. Dennoch fiel dieses Jahr besonders auf, was gerade in schweren Zeiten schmerzlich fehlt: Gemeinschaft, Unterstützung, Verlässlichkeit – eben ein echtes Netzwerk. Immer mehr Großstädter:innen zieht es deshalb aufs Land. Der Haken: die Infrastruktur. Eine Gemeinde etwa 100 Kilometer südwestlich von Berlin will den vermeintlichen Widerspruch auflösen und das Landleben neu erfinden. Wir wollten wissen, was es mit dem Konzept auf sich hat.
Zwischen Kuhdorf, Co-Working und Co-Living
Noch sieht es desolat aus rund um den Bahnhof Wiesenburg. Einsturzgefährdete Gebäude säumen die Straße, die Ruinen eines volkseigenen Betriebs bröseln vor sich hin. Knapp drei Kilometer sind es vom Bahnsteig bis in den Kern der 1.200-Seelen-Gemeinde Wiesenburg, bekannt für ihren Schlosspark, einen der schönsten und größten in ganz Brandenburg.
Direkt neben dem Gründerzeit-Bahnhof liegt das Gelände des ehemaligen Sägewerks. Auf einer fünf Hektar großen Fläche soll hier in den nächsten zwei Jahren eine neue Siedlung entstehen. Ein Projekt, das seine Initiator:innen KoDorf nennen. „Klingt nach Kuhdorf und nach Co-Working und Co-Living“, sagt der Münchner Architekt Patric F. C. Meier. Er und die Historikerin und „Storytellerin“ Katrin Frische haben die neuartige Siedlung zusammen mit dem Berliner Blog-Betreiber und Netzwerker Frederik Fischer konzipiert.
Und was bitte ist ein KoDorf?
„KoDörfer bestehen aus einer Ansammlung von kleinen Häusern und einigen großzügigen bis opulenten Gemeinschaftsflächen, darunter ein Co-Working-Space, eine Dorfschänke, Werkstätten, Yoga-Räume, vielleicht auch ein Kindergarten. Über die genaue Nutzung der Gemeinschaftsflächen entscheidet die Gemeinschaft.“ So heißt es auf der Homepage des KoDorfes Wiesenburg, mit dem das Konzept deutschlandweit erstmalig umgesetzt wurde. Das zweite Projekt startete diesen Sommer im nordrhein-westfälischen Erndtebrück.
Gedacht ist das KoDorf in Wiesenburg für Menschen, denen die Städte mit ihren horrenden Mieten und der hohen Verkehrsbelastung zu eng geworden sind. Die sich auf dem Land Freiräume für neue Lebensstile schaffen wollen. „Lebensstile“, wie sich Frische ausdrückt, „die Arbeit und Freizeit nicht mehr strikt voneinander trennen.“
Was Dörfer früher einmal auszeichnete: Natur und echte Gemeinschaft
Hauptzielgruppe des KoDorfs Wiesenburg waren ursprünglich „digital workers“, die ortsunabhängig arbeiten und ihre Zelte überall dort aufschlagen können, wo schnelles Internet verfügbar ist. Doch das Interesse an diesem Projekt ging weit über diese Berufsgruppe hinaus: „Unter den 26 Parteien, die sich bereits committed haben, sind auch Menschen, die ganz anderen Tätigkeiten nachgehen.“
Ihr gemeinsamer Nenner ist laut Frische die Sehnsucht nach Natur und Gemeinschaft. „Unser KoDorf soll eine Rückbesinnung sein auf das, was ein Dorf möglicherweise mal ausgezeichnet hat“, meint Meier, dessen Münchner Architekturbüro agmm schon viele Baugemeinschaften und Genossenschaften betreut hat. „Die Bereitschaft zu teilen. Das Bewusstsein, aufeinander angewiesen zu sein.“
Meier, Frische und Fischer wollen weg vom isolierten Einfamilienhaus. Im KoDorf funktionieren die individuellen Wohngebäude nur zusammen mit den Gemeinschaftseinrichtungen. Zusammen mit dem Co-Working-Space, der im ehemaligen Sägewerk entstehen soll, den gemeinschaftlichen Gärten, Waschmaschinen, Werkstätten und Gästeeinheiten.
Pragmatisch und „maximal undogmatisch“ sei das Konzept. Darauf legen Frische und Meier großen Wert. Hinter dem KoDorf Wiesenburg steckt keine Glaubensgemeinschaft oder ein besonderer Lebensstil. Trotzdem ist es meilenweit entfernt von der klassischen Reihenhaussiedlung, und das, so Meier, liege nicht zuletzt am Menschenbild, das hinter dem Projekt steht.
„Es soll sich anders anfühlen, in einem KoDorf krank zu werden als anderswo“
Dass unterschiedliche Altersgruppen zusammenleben, ist für den Architekten essenziell. Kinder und alte Menschen, Familien und Alleinstehende. Ein Knackpunkt: Das gesamte Gelände ist komplett autofrei. „Die Kinder sollen das Dorf in Beschlag nehmen können.“ Meier betont, wie wichtig ihm der unmittelbare Kontakt der Menschen untereinander ist. Das KoDorf setzt auf Selbstwirksamkeit statt auf unverbindliche Netzwerke. „Für uns steht die Beziehungskultur im Zentrum der Lebensqualität. Es soll sich beispielsweise anders anfühlen, in einem KoDorf krank zu werden als anderswo“, sagt er.
Vernetzt nach innen und nach außen
Vieles will die Siedlung anders machen, natürlich soll sie aber kein Bollwerk werden, das sich gegen die Außenwelt abschirmt. Man sei, so Frische, auf die gute Zusammenarbeit mit den umliegenden Kommunen angewiesen. „Die Gegend ist sehr agil“, findet sie, „da gibt es schon verschiedene neue Projekte und Initiativen.“
Und ganz aus der Welt ist das KoDorf Wiesenburg dank des Bahnhofs natürlich auch nicht. Ganz im Gegenteil. Stündlich fährt ein Zug ins 100 Kilometer entfernte Berlin. Eine gute Anbindung mit öffentlichen Verkehrsmitteln soll übrigens auch bei weiteren KoDörfern gewährleistet sein, die derzeit in Westfalen und der Bodensee-Region geplant werden.
Digitalisierung ist für uns häufig selbstverständlich und mit Vorteilen für unser Leben verbunden – außer da, wo sie eben noch fehlt. Für diese Regionen setzt sich das Projekt "Smart Country" der Bertelsmann Stiftung ein und unterstützt Kommunen durch Studien und Beispiele dabei, Schritt zu halten und individuelle Chancen zu ergreifen.