Wie verändert Corona die Arbeitswelt?
-
alexandre zveiger - stock.adobe.com
- 02. September 2020
Was vor Kurzem fast unmöglich erschien, ist mittlerweile Realität: Ganze Firmen arbeiten mobil, traditionelle Arbeitsmodelle geraten ins Wanken. Doch zu „New Work“ gehört mehr als ein Laptop und keine Anwesenheitspflicht im Büro. Ole Wintermann stellt im change Interview vermeintliche Gewissheiten auf den Kopf und fordert, alte Rollen und Selbstverständisse zu hinterfragen.
Was traditionell unter Arbeitnehmer*innen und Arbeitgeber*innen verstanden wird, erfährt einen Wandel. Denn wer bietet Arbeit an und wer fragt sie nach? So gesehen dreht sich der Spieß um, die klassischen Arbeitnehmenden werden Arbeitgebende und andersherum. Um dieses Denken konsequent fortzuführen, braucht es einen grundlegenden Sinneswandel: Anbieter*innen und Nachfrager*innen von Arbeit müssen auf Augenhöhe kommunizieren. New-Work-Experte Ole Wintermann appelliert an die Bereitschaft zur Offenheit, neue Wege zu gehen.
Dr. Ole Wintermann
… ist Senior Project Manager der Bertelsmann Stiftung. Er befasst sich mit der Zukunft der Arbeit sowie Fragen der Globalisierung und Demografie, der Netzfreiheit und Open Educational Resources. Außerdem bloggt er, unter anderem für die Netzpiloten und das Journalist*innen-Start-ip piqd.
Hier geht es zu seinem Twitter-Account.
change | Durch die Corona-Krise ist quasi von heute auf morgen das gesamte Angestellten-Personal der Republik Expert*in in mobilem Arbeiten geworden. Einige Unternehmen haben die Anwesenheitspflicht für ihre Angestellten abgeschafft. Ist das dieses viel beschworene „New Work“?
Dr. Ole Wintermann | Nein, wir können hierbei keinesfalls von „New Work“ sprechen. Es ist wichtig, beide Themen sowohl zusammen als auch getrennt zu sehen. Zusammen, weil New Work ohne Mobile Work nicht funktionieren kann. New Work ist aber deutlich mehr als „nur“ mobiles Arbeiten. Die Kommunikation zwischen unterschiedlichen Hierarchieebenen auf Augenhöhe, die Fähigkeit, Bereitschaft und digitale Kompetenz zur sozialen Kollaboration, die Frage nach den Werten, die mich als Menschen steuern, die Offenheit für beständige Änderungen des Arbeitsumfeldes, die Bereitschaft, neue Wege zu gehen. All dies macht New Work aus. Getrennt, weil Mobile Work nicht zwangsläufig von New Work begleitet sein muss. In manchen Unternehmen wird mobiles Arbeiten als eine verlängerte Werkbank ins Private hinein gesehen, ohne dass sich anscheinend Rollen und Selbstverständnisse ändern. Zu Hause einen Dienstschreibtisch und -PC hingestellt zu bekommen, kann zwar zu mobilerer Arbeit führen; mehr Selbstständigkeit bedeutet dies aber nur, wenn Arbeitnehmende (klassisch: Arbeitgeber*innen) Arbeitgebenden (klassisch: Arbeitnehmer*innen) diese zugestehen. Mit Blick auf die Zukunft der Arbeit mutet es inzwischen sehr antiquiert an, dass der*die Arbeitnehmende dem*der White-Collar-Arbeitgebenden vorschreiben will, wo die Arbeit zu erledigen ist. Ergebnis- statt Prozessfixierung wäre hier die angemessene Antwort.
Oft hört man, der Ort bzw. der Raum würde durch mobiles Arbeiten unwichtiger. Wie sehen Sie das?
Ort und Raum sind absolut bedeutungslos – im Fall der White-Collar-Arbeitenden. Jede Tätigkeit, die die Nutzung eines PCs sowie den Austausch mit anderen Menschen bedingt, ist von überall und zu jeder Zeit zu verrichten, wenn die Arbeit im Projektteam das zulässt. Häufig wird der Technik die Schuld an der Unfähigkeit zum virtuellen Arbeiten gegeben. Es wird sich dabei zu leicht gemacht. Ist es nicht tendenziell eher die dysfunktionale Arbeitskultur, die erstens die Anschaffung von benutzerfreundlichen Soft- und Hardwarelösungen sowie eine transparente Kommunikation auf Augenhöhe und damit das Selbstmanagement des Teams verhindert?
Bedingt sich beides nicht auch gegenseitig?
Genau, funktioniert die Technik nicht oder wird diese allein nach den zentralistischen Steuerungsparadigmen der IT-Abteilung ausgerichtet, kann auch die beste Arbeitskultur keine ausreichende Kommunikationsdichte erreichen. Existiert umgekehrt keine wertschätzende Arbeitskultur, so kann auch die beste Technik das nicht ausgleichen. Auch in diesem Fall würde Kommunikation nicht stattfinden.
Ist denn mobiles Arbeiten das Privileg der Wissensarbeiter*innen?
Auch die Arbeitgebenden am Fließband oder die Kassierer*innen beim Discounter sind Wissensarbeiter*innen. Sie sammeln genauso (Erfahrungs-)Wissen an wie die klassischen Wissensarbeiter*innen in der Uni oder im Büro. Mobile Work ist für die, die es umsetzen können, kein Privileg, sondern einfach eine andere Art des Arbeitens. Warum sollten wir ihnen vorenthalten, produktiver arbeiten zu können, wenn sie Raum und Zeit selbst bestimmen können?
Aber wie können auch die Blue-Collar-Berufe, die Sie gerade angesprochen haben, mehr Selbstbestimmtheit erlangen?
Ich denke, dass insbesondere im Blue-Collar-Bereich Gewerkschaften und das Instrument der Mitbestimmung noch eine deutlich größere Rolle spielen können, als sie dies in den letzten Jahren getan haben. Die Idee von New Work macht ja nicht plötzlich an klassischen Werkstoren halt. Jede*r Beschäftigte, egal ob White oder Blue Collar, möchte auf Augenhöhe behandelt werden. Vielleicht müsste man im Blue-Collar-Bereich noch weitergehen und Mitbestimmung in die Frage nach Miteigentum überführen? Die Schweden haben das in den 1970er-Jahren bereits mal experimentell ausprobiert. Das wäre doch ein schönes Projekt für die Entwicklung einer realen Mitbestimmung.
Nun können selbst alle bisher in den Büros arbeitenden Menschen nicht nur von zu Hause oder in Cafés arbeiten. Welche Rolle werden Co-Working-Spaces und Co. in naher Zukunft spielen?
Wenn wir betonen, dass nicht alle Menschen mobil arbeiten können, negieren wir jedes Mal den Wunsch von Millionen von Berufstätigen, denen es aber möglich ist. Vielleicht ist es an der Zeit, die Diversität der Arbeitstechniken und Arbeitsorte anzuerkennen. Co-Working-Spaces und Co. können diese Diversität besser darstellen als das Massenbüro in Hochhaus-Bürotürmen der Vergangenheit. Wieso müssen Menschen ihre Häuschen im Grünen verlassen, um stundenlang in eine Innenstadt zu pendeln, wo sie dann im Büro vor einem Monitor sitzen, den sie zu Hause im Grünen auch stehen haben? Und für die Menschen, die zu Hause nicht die Arbeitsmöglichkeiten haben, stehen zum Beispiel die Co-Working-Spaces auf dem Lande zunehmend zur Verfügung. Wieso 100 Kilometer nach Hamburg, Köln und München hineinpendeln, wenn ich am Bahnhof meines kleinen Vorortes einen Co-Working-Space nutzen und einen Kaffee genießen kann? Nachhaltig für die Umwelt und für uns selbst ist das Vermeiden von Pendelaufwänden ja sowieso.
Damit haben Sie schon einige Vorteile mobiler Arbeit angesprochen: Umwelt-, Zeit- und finanzielle Ressourcen werden geschont. Was spricht aus Ihrer Sicht noch dafür?
Es entsteht das Leitbild mündiger Arbeitgeber*innen, das ein Stück weit die ineffizienten Machtverhältnisse in Unternehmen untergraben kann. Arbeitgebende können auf hohe Mieten in Großstädten verzichten und dort wohnen, wo andere Urlaub machen. Und wir werden uns alle zunehmend außerhalb der Büros fragen, für welche Werte mein*e Arbeitnehmende*r steht. Bin ich für die Steigerung des Profits in der Welt unterwegs oder für sinnvollere Werte?
Gibt es auch Nachteile, die thematisiert und gegebenenfalls reguliert werden müssen?
Ich würde es eher ungeklärte offene Fragen nennen, zum Beispiel nach der „richtigen“ Regulierung dieser Arbeitsform. Hier stehen sich viele Aspekte von Sicherheit und Flexibilität ungeklärt gegenüber. Eine weitere offene Frage ist die der Notwendigkeit der Sichtbarwerdung für „Karrieren“. Führungsauswahl erfolgt in Deutschland nach wie vor sehr traditionell. Virtuell arbeitende Menschen sind dabei weniger sichtbar.
„Mobile Work ist für die, die es umsetzen können, kein Privileg, sondern einfach eine andere Art des Arbeitens.“
Dr. Ole Wintermann, New-Work-Experte
Kann es nicht als Nachteil verstanden werden, dass wir eine nie dagewesene Entgrenzung der Arbeit erleben? Klar, einerseits erlaubt uns das, uns besser in unsere Arbeitsprozesse einzubringen. Andererseits werden bisher private Aspekte unseres Lebens wirtschaftlichen Zielen unterworfen. Wie schätzen Sie diese Entwicklung ein? Wird in Zukunft im Arbeitsleben nur gewinnen, wer möglichst wenig Grenzen zieht, zeitliche und räumliche?
Wir müssen Selbstmanagement lernen und Selbstwirksamkeit erfahren. Die Arbeitgebenden wurden jetzt seit fast 200 Jahren zu ausführenden und passiven Arbeitskräften degradiert. Bis in den kleinsten Arbeitsschritt hinein regeln die Richtlinien des Unternehmens, was ich zu tun und zu lassen habe. Ich überlebe am besten, wenn ich die tradierten Regeln „des Systems“ akzeptiere und – obwohl ich ein*e mündige*r Bürger*in bin – nicht weiter darüber nachdenken. Digitales Arbeiten erfordert daher die Aktivierung dieser seit 200 Jahren verschütteten Kompetenzen zum Selbstmanagement. Häufig begegnet man in den Transformationsprozessen sowohl auf „Führungs“ebene als auch auf Ebene der „Geführten“ Angst. Angst dominiert unsere Arbeitswelt. Angst, sich zu bekennen, sichtbar zu werden, etwas falsch zu machen, negativ aufzufallen. Es wird ein weiter Weg zurück in eine „hellere“ Arbeitswelt.
Vielen Dank für das Gespräch!
Die Arbeitswelt ändert sich rasant. Wie behalten wir den Überblick? Das Projekt „Die Betriebliche Arbeitswelt in der Digitalisierung“ der Bertelsmann Stiftung will Berufstätige und Unternehmen unterstützen, bei diesen Veränderungen Schritt zu halten.