Hatice Schmidt und Matondo Castlo über eins der größten Probleme unserer Gesellschaft
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Sebastian Schmidt (li.) & MESH Collective (re.)
- 22. Oktober 2020
Wer heute als Kind oder Jugendliche:r in Armut aufwächst, ist einem enormen Druck ausgesetzt. Wie geht man damit um? Beauty-YouTuberin Hatice Schmidt und Rapper Matondo Castlo sprechen im change Interview über ihr eigenes schwieriges Aufwachsen, Wege aus der Gewalt und wie wichtig es ist, Unterstützung zu finden.
Hatice Schmidt & Matondo Castlo
… sind zwei Gesichter der Initiative #StopptKinderarmut. Hatices Beauty- und Lifestyle-Kanal zählt zu den erfolgreichsten Deutschlands. Die gelernte Krankenpflegerin ist mittlerweile auch Unternehmerin und verantwortet eine eigene Make-up-Kollektion. Matondo ist Musiker, Hip-Hop-Dozent, Erzieher und Theaterschauspieler. Mit seinen Rap-Workshops will er Kindern und Jugendlichen die vielfältigen Ausdrucksmöglichkeiten dieser Kunstform nahebringen.
Hatice auf YouTube und Instagram
Matondo auf YouTube und Instagram
change | Hallo Hatice, hallo Matondo. Ihr seid beide sehr aktiv in den sozialen Netzwerken. Worin liegt für euch der Wert von YouTube, Instagram und Co.? Können Jugendliche etwas von diesen Plattformen mitnehmen, womit sie ihre Lebenssituation verbessern können, oder ist das alles nur Zeitvertreib?
Hatice Schmidt (HS) | Es ist eine Mischung aus beidem. Wenn ich an Nachrichten aus meiner Community denke, bleiben mir meist solche in Erinnerung, die sich bei mir bedanken: „Hati, du inspirierst mich“, „Du hilfst mir durch eine schwierige Zeit“ – das sind Leute, die sich in irgendeiner Form bereichert fühlen durch Social Media.
Matondo Castlo (MC) | Da kann ich dir nur zustimmen. Es ist sowohl Zeitvertreib als auch eine große Inspirationsquelle. Ich find’s toll zu sehen, wie die Jugendlichen mithilfe von YouTube-Tutorials eigene Beats machen. Social Media hat also auch einen Lerneffekt.
HS | Absolut.
Das fällt bei euren Videos auf, wie positiv und vertrauensvoll die Kommentare sind. Das zeigt, dass ihr in euren Communitys eine Jugendkultur schafft, in der sich Jugendliche austauschen, anvertrauen und bestärkt werden. Wie macht ihr das?
HS | Du wählst ja selbst, welche Art von Content Creator du bist. Aufgrund meiner eigenen Biografie denke ich, dass ich eine soziale Verantwortung habe.
Du bist in einem ziemlich konservativen Elternhaus aufgewachsen, als Tochter türkischer Gastarbeiter:innen, und im Berliner Bezirk Neukölln auf eine Brennpunktschule gegangen.
HS | Meine Lebensgeschichte habe ich lange geheim gehalten. Jetzt versuche ich Leuten zu zeigen: Wenn du an dich selbst glaubst, kannst du vieles schaffen. Das versuche ich zwischen den Zeilen in meinen Beauty-Videos auch immer mitzugeben. Da geht es um mehr als Tipps, wie man korrekt Mascara aufträgt.
MC | Ich glaube, ich spreche auch für Hatice, wenn ich sage, dass wir versuchen, den Leuten, die uns folgen, Nähe zu zeigen. Dazu gehört für uns, auch über unsere Schwächen zu reden. Das kommt bei den Leuten gut an.
Ihr engagiert euch beide in der Initiative #StopptKinderarmut. Ihr kennt das Thema aus eigener Erfahrung. Warum nimmt die Politik Kinderarmut als gesellschaftliches Problem nicht ernst genug?
HS | Leute denken noch immer, Deutschland ist ein reiches Land, hier gibt es so was wie Armut nicht.
MC | Vielen Menschen ist nicht klar, was Armut bedeutet. Die schauen dann auf krasse Beispiele in anderen Ländern, wo Menschen in extremer Armut leben. Kinderarmut bedeutet zwar nicht, dass Kinder auf der Straße leben müssen und nichts zu essen haben, aber Kinderarmut bedeutet, dass Kinder auf viele Dinge verzichten müssen, die für andere komplett normal sind.
HS | Wenn man ein wenig über den eigenen Tellerrand hinausschaut und sich aus der eigenen Komfortzone bewegt, sieht man, dass es auch hier Armut gibt. Dazu kommt, dass in Politik und Medien die Themen gut funktionieren, die Aufsehen erregen, dieses typische Schlagzeilendenken. Kinderarmut gehört paradoxerweise nicht dazu. Deshalb müssen wir unsere Stimme erheben, sonst wird es immer ein Nischenthema bleiben.
Die fehlende soziale Teilhabe, die mit Kinderarmut einhergeht, ist sicherlich ein Faktor, warum Kinder und Jugendliche auf die schiefe Bahn geraten. Ihr habt beide in eurer Jugend auch die kriminelle Seite Berlins kennengelernt, aber früh einen Schlussstrich gezogen. Wie kam es zu der Entscheidung, diesen Weg nicht weiterzugehen?
HS | Schon an meinem ersten Schultag habe ich Gewalt mitbekommen. Für mich lautete die Frage: Bist du die, die gemobbt wird, oder bist du die, die da mitzieht? Fressen oder gefressen werden. Also habe ich mitgemacht. Als dann mein bester Freund Opfer einer Messerstecherei wurde, habe ich gesagt, ich muss hier raus.
MC | Auch ich bin in Neukölln zur Schule gegangen, da ging es ähnlich zu. Gewalt war allgegenwärtig. Der Wendepunkt für mich war, nachdem ein paar Kumpels und ich einen Laden überfallen hatten. Mein Vater sagte danach zu mir: „Ich bin über 20 Jahre in diesem Land, noch nie hat die Polizei an meiner Tür geklingelt, aber du hast es geschafft, dass sie hier reingekommen ist.“ Für mich stand fest, dass es so nicht weitergeht. Ich musste etwas aus mir machen. Diese Erfahrungen sind für mich auch die Motivation, Kindern und Jugendlichen zu zeigen, dass Gewalt und Kriminalität keine Lösung sind.
Als Social-Media-Moderatoren erlebt ihr auch die schlechten Seiten der Netzkultur. Bekommt ihr viele beleidigende oder diskriminierende Kommentare? Wie sollte man eurer Meinung nach damit umgehen?
MC | Es ist nicht einfach, damit umzugehen. Hass im Netz perlt nicht einfach an allen ab. Was mir hilft, ist auch die andere Seite zu sehen, die vielen Menschen, die einem Liebe und Support geben. Zuspruch ist wichtig.
HS | Hate ist an der Tagesordnung. Je größer die eigene Reichweite ist, desto größer wird die Zahl der Hasskommentare. Da hilft nur blockieren. Auch wenn es Leute gibt, die sagen, das schränkt den Dialog ein, im Endeffekt geht es um deine eigene geistige Gesundheit. Die Blockierfunktion ist das Einzige, womit ich mich im Internet vor Hater:innen schützen kann. Was auch hilft, ist, sich mit Freund:innen darüber auszutauschen und sich gegenseitig aufzubauen. Das ist extrem wichtig.
Vor allem, wenn es um kontroverse Themen geht, kippt die Stimmung schnell. Matondo, du hast einen Song über das Kopftuch gemacht. Hatice, du hast mal gesagt, dass das Ablegen des Kopftuchs für dich ein Wendepunkt in Deinem Leben war. Wie nehmt ihr die Diskussion um das Kopftuch in Deutschland wahr?
HS | Ich habe erst neulich einen Fall mitbekommen, ein Mädchen wollte in ein Fitnessstudio und ihr wurde gesagt, dass sie mit Kopftuch nicht trainieren darf. So was ist furchtbar, aber kein Einzelfall. Für mich war die Entscheidung, das Kopftuch abzulegen, genau mit solchen Erfahrungen verbunden. Ich hatte einen erweiterten Hauptschulabschluss, einen ausländischen Namen (bevor Hatice geheiratet hat; Anm. d. Red.), da kannst du dir ausrechnen, was deine Chancen sind, einen Job zu bekommen, wenn du dann auch noch Kopftuch trägst. Ich habe die gleiche Bewerbung an die gleiche Krankenpflegeschule geschickt, einmal mit Kopftuch, einmal ohne. Rate mal, auf welches Schreiben ich eine Einladung bekomme habe.
MC | Es sind genau diese Geschichten, die mich dazu gebracht haben, den Song über das Kopftuch zu machen. Ich bin sehr dankbar, viele inspirierende Frauen und Mädchen kennengelernt zu haben, die Kopftuch tragen, die mir ein ganz anderes Bild vermitteln als das, was mir in den Medien präsentiert wird.
HC | Leute vergessen in dieser Kopftuchdiskussion, dass es am Ende um einen Menschen geht, der dieses Tuch trägt, aus den unterschiedlichsten Gründen. Da ein allgemeingültiges Urteil zu fällen, ist einfach falsch. Das grenzt pauschal Menschen aus.
Auch Kinder und Jugendliche, die in Armut aufwachsen, haben häufig das Gefühl, nicht dazuzugehören und „anders“ zu sein. Hatice, du hast einen erfolgreichen Beauty-Kanal. Verstärken die Beauty-Trends dieses Gefühl der Ausgrenzung nicht noch zusätzlich?
HS | Definitiv, aber nicht nur Beauty-Trends verstärken das. Jede Form von Konsum verstärkt diese Ausgrenzung, ich werde ja täglich bombardiert mit Dingen, die ich mir nicht leisten kann. Für mich als Content Creator ist es daher wichtig, meinen Zuschauer:innen zu vermitteln, dass sie dazugehören, dass sie schön sind. Ich bekomme es bei meinen Neffen und Nichten mit, sie haben oft auch das Gefühl, ausgegrenzt zu sein, obwohl es ihnen materiell viel besser geht als mir in meiner Kindheit. Der Druck auf die Kids steigt.
Du bist selbst in schwierigen Verhältnissen aufgewachsen. Glaubst du, du hättest es so weit gebracht, wenn du es früher einfacher gehabt hättest?
HS | Wenn du solche Erfahrungen gemacht hast wie ich, hast du schon mehr Biss im Leben. Du musst dich öfter beweisen, musst kämpfen. Wenn ich mir meinen Mann anschaue, gut bürgerlich, Eltern spielen Golf … der lässt auch schneller mal los. Ich bin da verbissener. Armutserfahrung hinterlässt Spuren, ich habe zum Beispiel bis heute Zukunftsängste, obwohl es mir mittlerweile finanziell gut geht. Der Druck und die Angst, etwas nicht zu schaffen, prägt einen auch über die Kindheit hinaus. Daher bin ich kämpferischer, als ich es vielleicht sein würde, wenn ich es als Kind einfacher gehabt hätte.
Auch in der Musik wird dieser Druck, von dem Hatice spricht, aufgebaut. Dass es auch anders geht, zeigst du, Matondo. Deine konstruktive, gesellschaftskritische Art, Musik zu machen, hat mit Mainstream-Rap, wo es oft um Geld, Gewalt und Drogen geht, wenig gemeinsam. Du arbeitest auch als Streetworker und Hip-Hop-Dozent, unter anderem an Schulen und in Gefängnissen. Wie schaffst du es, junge Menschen für deine Art von Musik zu begeistern?
MC | Ich frage sie oft, was sie denken, wenn ihre Eltern ihre Musik hören würden. Da setzt dann schon oft das Grübeln ein. Was würde meine Mutter von mir denken, wenn sie mitbekommt, was für ein Frauenbild in dem Song gezeichnet wird? In meinen Workshops versuche ich, sie für solche Fragen zu öffnen. Das ist ein Prozess. Am Anfang markieren viele noch den krassen Typen, aber wenn wir dann darüber reden und verstehen, wo diese Haltung herkommt, verändert sich die Haltung. Für viele ist das eine der wenigen Gelegenheiten, mal Gefühle zuzulassen und sich auszupowern. Das Mikrofon spürt nichts, das kannst du anschreien wie du willst. Mir ist es lieber, wenn die Kids Wut und Frustration so kanalisieren, als wenn sie das auf der Straße ausleben. Ich lasse ihnen beim Rappen viel Freiraum. Am Ende kann ich sie nicht zwingen, in eine bestimmte Richtung zu denken, aber ich kann ihnen den richtigen Weg weisen.
Ein Problemaspekt ist ja, dass arme Kids kein Geld für Freizeitaktivitäten haben. Sie hängen auf der Straße rum und haben keinen Ort, an dem sie Zuflucht suchen können.
MC | Wir brauchen mehr kostenlose Angebote für Kinder und Jugendliche, die in Armut aufwachsen, mehr Zufluchtsorte. Orte, an denen sie emotional aufgefangen werden, aber auch, wo ihnen bei ganz konkreten Dingen geholfen wird. Wie finde ich eine Lehre, wie schaffe ich meinen Abschluss? In diesen Jugendlichen schlummert so viel Potenzial, wir dürfen sie nicht im Stich lassen. Jedes Kind und jede:r Jugendliche verdient die Möglichkeit, sich zu entfalten.
HS | Wenn ich an meine eigene Jugend zurückdenke, war genau das das Problem. Es gab wenige Orte, an denen du Hilfe bekommen hast. Zu meinen Eltern konnte ich nicht gehen, die kannten das System als türkische Einwanderer:innen ja selbst nicht. Ich hatte so viele Fragen. Wie schreibt man eine Bewerbung? Wie beantragt man Maßnahmen? Wie macht man eine Steuererklärung? Ich war komplett auf mich allein gestellt. Von daher hat Matondo recht, wir brauchen Zufluchtsorte für Kinder und Jugendliche.
Im übertragenen Sinn seid ihr, sind eure Communitys ja auch Zufluchtsorte. Wir hatten am Anfang darüber gesprochen, wie toll es ist, dass sich eure Fans untereinander bestärken, sich austauschen und sich gegenseitig einander anvertrauen. Vielen Dank für euer Engagement und vielen Dank für das Gespräch!
Jedes Kind in Armut ist eines zu viel. Darum macht sich die Bertelsmann Stiftung zusammen mit zahlreichen kinder- und familienpolitischen Organisationen für die Verletzlichsten unter uns stark. Mit der Initiative #StopptKinderarmut fordern wir Politik und Gesellschaft auf, nicht weiter die Augen zu verschließen, sondern endlich zu handeln.