Darum liegt so viel Kraft in unbequemen Dingen
-
Ines Marquet
- 25. November 2022
Wie kommst du raus aus der Spirale des Vermeidens? Wie gehst du achtsam mit deinen eigenen Ressourcen um? Was willst du bewegen und wozu? Vera Strauch hat die passenden Denkanstöße.
Erwischst du dich auch manchmal dabei, dass du Dinge, die du ungern tust, so lange wie möglich aufschiebst? Keine Sorge, das ist sehr menschlich! Wenn wir im Leben weiterkommen und uns entwickeln wollen, müssen wir uns aber auch unbequemen Dingen stellen. Warum das so ist, verrät dir Autorin und Gründerin Vera Strauch.
Vera Strauch
… ist Autorin, Podcasterin und Gründerin der Female Leadership Academy. In ihrem Buch „Unbequem – eine Aufforderung zum Anecken“ lädt sie dazu ein, den anstrengenden Weg zu gehen, Angepasstheit zu überwinden, unangenehme Emotionen zuzulassen und über Unzufriedenheiten offen zu reden.
Veränderung bedeutet weniger Sicherheit
Geht es um Veränderung, spielt das Unbequeme unweigerlich eine Rolle. Denn es fühlt sich erst einmal nicht angenehm an, etwas zu machen, das wir so bisher noch nicht getan haben. Das gilt für uns persönlich als auch in der Gemeinschaft. Es kann sehr fordernd sein, die Ungewissheit darüber auszuhalten, wohin uns neue Wege führen und ob getroffene Annahmen aufgehen. Veränderung bedeutet weniger Sicherheit und damit auch weniger Komfort.
„Den pauschalen Ruf nach dem ‚Austreten aus der Komfortzone‘ sehe ich kritisch.“
– Vera Strauch
Wir brauchen einen Ort, an dem wir unsere Batterien aufladen können
Doch wollen wir bedeutsame Veränderungen, brauchen wir die (kollektive) Kompetenz, mit dem Unbequemen umgehen zu können. Den pauschalen Ruf nach dem „Austreten aus der Komfortzone“ sehe ich allerdings kritisch. Wollen wir große Herausforderungen angehen, braucht das Kraft. Unsere Komfortzone, der Ort, an dem wir unsere Batterien aufladen und uns stärken können, ist darum wichtig, um die Energie für Veränderung aufzubringen. Um die Dinge angehen zu können, die wirklich wichtig sind, brauchen wir ein gewisses Maß an Bequemlichkeit.
Unbequeme Gefühle, Momente oder Entscheidungen lieber umschiffen?
Schwierig wird es nur, wenn wir dadurch den großen Fragen ausweichen, die sich uns stellen – als Einzelpersonen, Organisationen und als Gesellschaft. Dann setzt sich eine häufig unbewusste Spirale des Vermeidens in Gang: Wir umschiffen unbequeme Gefühle und Momente, weichen Gesprächen, Fragen, Entscheidungen aus.
Probleme verschwinden nicht einfach, wenn wir sie ignorieren
Gerade bei Problemen ist das eine fatale Dynamik. Denn die verschwinden nicht einfach, weil wir sie ignorieren. Das lässt sich auf drei Ebenen anhand einfacher Beispiele zeigen:
1. Individuell: Ignoriere ich meine persönlichen Probleme wie Sorgen oder Ängste, verschwinden diese deshalb nicht. Zum Beispiel sind unangenehme Gefühle Teil eines jeden Lebens und brechen sich – wenn unterdrückt – mit der Zeit trotzdem Bahn. Weichen wir unseren persönlichen Problemen aus, entsteht ein Nährboden für psychische Probleme.
2. Kollektiv: Vermeiden wir die Themen, die uns beispielsweise im Miteinander in Teams bei der Arbeit bewegen, heißt das nicht, dass diese Themen nicht mehr da sind. Schwelende Spannungen werden zu unaufhaltbaren Konflikten, die irgendwann unkontrolliert über das Team hereinbrechen.
3. Gesellschaftlich: Die großen Herausforderungen unserer Zeit zu ignorieren, führt nicht dazu, dass sie kleiner werden. Ein eindrückliches Beispiel dafür ist der Klimawandel: Nur weil wir unbequemen Tatsachen und unpopulären Entscheidungen ausweichen, lässt sich die Krise nur so lange zurückstellen, bis sie sich mit ihren unübersehbaren Konsequenzen in unserer Umwelt zeigt.
Achtsam mit den eigenen Ressourcen umgehen
Den Umgang mit dem Unbequemen sehe ich wie eine Kernkompetenz, die wir alle für die Zukunft brauchen: Wir brauchen mehr, viele Menschen, die in der Lage sind, sich unbequemen Themen zu stellen. Die bewusst, mutig und liebevoll ihre Energie darauf lenken, wo es etwas zu verändern gilt. Die aber gleichzeitig achtsam mit ihren Ressourcen umgehen und nicht ausbrennen, weil sie die Sicherheit und Geborgenheit ihrer Komfortzone nutzen, um ihre Batterien regelmäßig aufzuladen.
„Wir brauchen mehr Menschen, die in der Lage sind, sich unbequemen Themen zu stellen.“
– Vera Strauch
Die Kraft des Unbequemen kann sich entfalten, wenn wir aufmerksam beobachten und zu differenzieren lernen: Wähle ich die Bequemlichkeit bisweilen bewusst, um dem Unbequemen kraftvoll entgegentreten zu können? Oder weiche ich dem Unbequemen aus, obwohl es wichtig ist?
Know your privilege
Bei meiner Forderung nach mehr Unbequemlichkeit für bedeutsame Veränderung ist eines sehr wichtig zu betonen: Es ist ein Thema der Privilegierten. Denn die allermeisten Menschen auf der Welt haben nicht die Option, es sich bequem zu machen. Ihr Leben ist in weiten Teilen viel unbequemer als meines zum Beispiel. Bequemlichkeit wählen zu können, ist ein Luxus, Ausdruck von Privilegien – und damit von Macht. Es ist wichtig, dass wir uns dieser Tatsache bewusst werden. Nicht um uns angeklagt zu fühlen, sondern um zu erkennen, dass wir Einfluss haben, den wir nutzen können.
Im Unbequemen liegt viel Kraft und Schönheit
Was will ich bewegen und wozu? Wo möchte ich meine Energie einsetzen? Wo gehe ich bewusst in den Schmerz der Unbequemlichkeit, weil ich meinen Einfluss für bedeutsame Veränderung nutzen möchte? Fragen wie diese kann sich jede:r stellen. Das ist nicht immer leicht, kann aber in der Veränderung, die sich dadurch in Gang setzt, auch zeigen: Es liegt eine verborgene Schönheit und große Kraft im Unbequemen.
Vera Strauchs Essay erscheint auch in der PDF-Ausgabe des change Magazins 02/2022. Das Magazin der Bertelsmann Stiftung steht mit vielen weiteren spannenden Themen kostenlos zum Download und als PDF-Abo zur Verfügung. Jetzt reinlesen!