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change Magazin – Das Magazin der Bertelsmann Stiftung

(Post-)migrantische Stimmen zum Tag der Deutschen Einheit

Anna Dushime, Nasir Ahmad und Malcolm Ohanwe im Interview © Pako Quijada/Nasir Ahmad/Frank Joung

Drei Stimmen zu drei Jahrzehnten deutsche Einheit

  • © Pako Quijada/Nasir Ahmad/Frank Joung
  • 2. Oktober 2020

Dieses Jubiläum zu verpassen, dürfte schwierig sein: Der 30. Jahrestag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2020 beherrscht seit Wochen die Medien. Was in der öffentlichen Diskussion oft zu kurz kommt: migrantische und postmigrantische Perspektiven. change hat drei prominente Stimmen versammelt und sie zum Jahrestag der Wiedervereinigung befragt.

Geschichte wird unterschiedlich erzählt. Auch drei Jahrzehnte nach der Wiedervereinigung haben Menschen in Ost und West sehr unterschiedliche Sichtweisen auf das vereinte Deutschland. „Die deutsche Einheit ist im Osten die Geschichte der friedlichen Revolution und der Montagsdemonstrationen, durch die schließlich die Wende herbeigeführt wurde. Die Geschichte im Westen dagegen handelt vom Scheitern der DDR an ihren wirtschaftlichen und politischen Unzulänglichkeiten“, sagt Kai Unzicker, Experte für gesellschaftlichen Zusammenhalt bei der Bertelsmann Stiftung. In einer neuen Studie stellen er und seine forschenden Kolleg:innen ihre Ergebnisse vor.

Die (post-)migrantische Perspektive auf die deutsche Einheit

Die Studie „30 Jahre deutsche Einheit“ hat nicht nur die Unterschiede zwischen Ost und West beleuchtet, sondern auch die Perspektive von Menschen mit Migrationshintergrund untersucht. Viel zu oft werden diese Stimmen in der Diskussion um die deutsche Einheit nicht gehört. Wir wollen ihnen hier Raum geben. change hat die Journalist:innen Anna Dushime und Malcolm Ohanwe sowie den Aktivisten Nasir Ahmad zum Stand der Wiedervereinigung befragt.
 


Anna Dushime: „Wir sollten nicht um Erlaubnis bitten und flehen müssen, endlich angehört zu werden“

Die Journalistin Anna Dushime

Anna Dushime

… ist Redaktionsleiterin verschiedener Produktionen von Steinberger Silberstein (zum Beispiel des „Browser Balletts“ und von „Aurel“, der Comedyshow von Aurel Mertz) und Kolumnistin für die taz. Die Journalistin wurde in Kigali in Ruanda geboren, ist im Ruhrgebiet und in Großbritannien aufgewachsen und hat in den Niederlanden studiert. Heute lebt sie in Berlin. Zusammen mit Ari Christmann und Yelda Türkmen betreibt sie den Podcast „Hart Unfair“.

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change | Ist 30 Jahre deutsche Einheit nur ein deutsches Thema? Was können (post-)migrantische Perspektiven beitragen?
Anna Dushime | (Post-)migrantische Perspektiven bereichern alle Sphären des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Wir sollten nicht um Erlaubnis bitten und flehen müssen, endlich angehört zu werden. Wir gehören genauso zu Deutschland wie weiße Deutsche, und es sollte endlich selbstverständlich sein. Wenn unsere Perspektiven weiterhin überhört und ignoriert werden, ist es um das Zusammenleben in diesem Land schlecht bestellt. 

Welche Rolle spielen Ost und West in deinem Leben?
Als ich 1999 nach Deutschland zog, um genau zu sein nach Neukirchen-Vluyn, wurden Ost und West in meiner direkten Umgebung so gut wie gar nicht thematisiert. Ehrlich gesagt nicht einmal wirklich in der Schule. Was mir aber relativ schnell klar wurde, war, dass Ostdeutsche neben Ostfries:innen oft für schlechte Witze herhalten müssen. Erst als ich nach Berlin zog, wurde das Thema, abgesehen von halb garen Pointen, präsenter und lebendiger für mich. Gerade wenn ich mir beispielsweise Berliner Redaktionsräume anschaue, wird mir klar, wie unterrepräsentiert Ostdeutsche sind. Und mit „Ostdeutsche“ meine ich selbstverständlich alle von ihnen – also auch jene mit Migrationshintergrund. Das ist wichtig zu betonen, weil diese beiden „Gruppen“ oft gegeneinander ausgespielt werden, als gäbe es keine ostdeutschen Menschen mit Migrationshintergrund.

Was sind die größten Herausforderungen, vor denen dieses Land steht, die auch nach 30 Jahren Einheit noch zu meistern sind?
Die größten Herausforderungen sind aus meiner Sicht nach wie vor die immer größer werdenden Unterschiede zwischen Arm und Reich sowie der Rassismus in der Gesellschaft und vor allem bei der Polizei und in anderen mächtigen Institutionen.

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Malcolm Ohanwe: „Deutschland muss endlich sein verdammtes völkisches Denken loswerden“

Der Journalist Malcolm Ohanwe

Malcolm Ohanwe

… ist Moderator beim Bayerischen Rundfunk und bei ARD-alpha. Der Sohn einer deutschen Mutter mit palästinensischen Wurzeln und eines nigerianischen Vaters wuchs in München auf. Zusammen mit dem Journalisten Marcel Aburakia betreibt er den Podcast „Kanackische Welle“.

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change | Ist 30 Jahre deutsche Einheit nur ein deutsches Thema?
Malcolm Ohanwe | Selbstverständlich ist es nicht nur ein deutsches Thema. Klar, es betrifft hauptsächlich uns Deutsche und unsere Nachkommen, manchmal auch unsere Vorfahren. Es ist Teil unseres Vermächtnisses, und es ist wichtig und höchst spannend, wenn wir uns als deutsche Gesellschaft damit auseinandersetzen. Aber auch für ausländische Staaten, merke ich, dass unser besonderes Ost-West-Verhältnis auch mit Klischees einhergeht, dass manche Leute dann doch denken, im Osten sprechen alle Russisch, zum Beispiel.

Was können (post-)migrantische Perspektiven beitragen?
(Post-)migrantische Perspektiven sind von der 30-jährigen deutschen Einheit gar nicht wegzudenken. Vertragsarbeiter:innen aus Vietnam, Tansania, Mosambik und vielen anderen Staaten haben maßgeblich zur ostdeutschen Wirtschaft und ihrer demografischen Entwicklung beigetragen, und genauso verhält sich das auch im Westen, wo meine Großeltern als Gastarbeiter:innen gearbeitet haben. Die Nachkommen dieser Generation sind oft gleichzeitig migrantisch markiert und haben dazu auch eine dezidierte ostdeutsche oder westdeutsche Prägung.

Welche Rolle spielen Ost und West in deinem Leben?
Tatsächlich keine große Rolle. Ich kenne die Geschichten von der ehemaligen DDR von meiner Mama, die hat das als Wessi-Kind miterlebt. Die hat das Ganze im Fernsehen gesehen und immer von der Ex-DDR gesprochen. Bei uns zu Hause lag auch noch eine DDR-Fahne herum. Ich habe keine sonderlich westdeutsche Identität. Das ist vielleicht mein Privileg als Nicht-Ossi, mir über so was keine Gedanken zu machen. Ich habe auch null familiären Bezug zu Ostdeutschland und bin somit nur beruflich in den ostdeutschen Großstädten Chemnitz, Potsdam und Leipzig gewesen.

Was sind die größten Herausforderungen, vor denen dieses Land steht, die auch nach 30 Jahren Einheit noch zu meistern sind?
Deutschland muss endlich sein verdammtes völkisches Denken loswerden.

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Nasir Ahmad: „Die größte Herausforderung ist der Rechtsextremismus“

Nasir Ahmad

Nasir Ahmad

… ist in Pakistan geboren und mit seiner Familie 1990 aufgrund politischer Verfolgung durch extremistische Muslim:innen nach Deutschland geflüchtet, weil er einer muslimischen Minderheit angehört. Seit zehn Jahren setzt er sich sowohl gegen Islamismus als auch Rechtsextremismus im Netz und für eine pluralistische, demokratische Gesellschaft ein.

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change | Ist 30 Jahre deutsche Einheit nur ein deutsches Thema? 
Nasir Ahmad | Es ist zuallererst einmal ein deutsches Thema, aber nicht ausschließlich biodeutsch. Denn auch Deutsche mit Migrationshintergrund haben diese Zeit erlebt und erleben ihre Nachwirkungen. Wenn ich mir Berichterstattungen zu dem Thema anschaue, sehe ich fast selten bis gar nicht, dass Menschen aus migrantischen Communitys zu Wort kommen. 

Welche Rolle spielen Ost und West in deinem Leben?
Um diese Frage zu beantworten, muss man verstehen, wo ich herkomme. Ich bin mit meinen Eltern aus Pakistan geflüchtet. Insofern haben Ost und West für mich, sofern es Deutschland betrifft, keine so große Bedeutung. Global gesehen spielt es für mich eine viel größere Rolle – als westliche und (nah-)östliche Kultur. Dass ich mich als deutscher Muslim identifiziere, ist ein Resultat dieser west-östlichen Prägung.

Was sind die größten Herausforderungen, vor denen dieses Land steht, die auch nach 30 Jahren Einheit noch zu meistern sind?
Die größte Herausforderung ist der Rechtsextremismus, der durch die AfD salonfähig geworden ist. Rechter Terror wurde viel zu lange verharmlost.

Nationaler Taumel und rassistische Pogrome

Rostock-Lichtenhagen, Hoyerswerda, Mölln, Solingen: Die Serie rechtsextremer Anschläge Anfang der 1990er-Jahre wirft bis heute lange Schatten. Mindestens 193 Menschen wurden seit 1990 durch rechte Gewalt getötet. So verwundert es nicht, dass alle unsere drei Gesprächspartner:innen den Kampf gegen Rechts als drängendstes Problem in diesem Land ansehen. Diesen Kampf müssen wir alle führen.

Wie steht es um den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland? Das gleichnamige Projekt der Bertelsmann Stiftung geht genau dieser Frage nach. Zum 30. Jahrestag der Deutschen Einheit veröffentlichte es eine Studie, deren Ergebnisse in dem Dokumentarfilm „Wir 80 Millionen – was Deutschland vereint“ vorgestellt werden.