Teilen:

change Magazin – Das Magazin der Bertelsmann Stiftung

30 Jahre Mauerfall: Zwischen Existenzangst und Euphorie

Eine Frau steht vor dem ehemaligen Grenzübergang. Valeska Achenbach

Die Mauer ist weg: „Ich bin dankbar, dass wir heute in Freiheit leben“

  • Valeska Achenbach
  • 4. November 2019

Am 9. November erinnern sich viele Deutsche an einen glücklichen Tag vor 30 Jahren. Ein Todesstreifen hatte bis zu diesem Tag im Jahr 1989 Deutschland getrennt und geteilt. Was ist den Menschen in Erinnerung geblieben? change ist zum ehemaligen Grenzübergang Marienborn gefahren und hat mit Besucher*innen über widersprüchliche Gefühle, Existenzangst und Euphorie gesprochen.

Die Nachricht, dass die Grenze zwischen West und Ost geöffnet werden sollte, wurde bei einer Pressekonferenz am 9. November 1989 eher beiläufig erwähnt. Knapp ein Jahr später, am 3. Oktober 1990, waren vier Jahrzehnte deutsche Teilung beendet, als die Deutsche Einheit das Licht der Welt erblickte. 

Vom Gefühl des Eingesperrtseins zur Euphorie

Viele Menschen begeben sich in diesem besonderen Jahr zu den Gedenkstätten entlang der ehemaligen Grenze. Der damals größte und wichtigste Grenzübergang lag in Helmstedt-Marienborn. Bis zu 170.000 Besucher*innen kommen jedes Jahr an diesen Ort, change hat mit einigen gesprochen. Sie erinnern sich an widersprüchliche Gefühle, Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Ost und West und die bewegte Geschichte unseres Landes. Und nicht zuletzt an die Euphorie, als die Mauer endlich fiel.
 

Ernst-Heinrich Wietfeld an der Gedenkstätte Marienborn.
„Ich dachte, ich träume, bis ich das Radio eingeschaltet habe. Das war ein ganz besonderer Tag.“ Ernst-Heinrich Wietfeld hat erst am nächsten Morgen vom Mauerfall erfahren. Er ist westlich des Grenzzauns aufgewachsen, nur wenige Kilometer von der Gedenkstätte Marienborn entfernt. Heute ist er Besucherbegleiter der Gedenkstätte.
Simon Baranowski mit Partnerin Sabine Seifert vor der Gedenkstätte Marienborn.
„Da war zwar eine Grenze, aber die Menschen sprachen dieselbe Sprache, hatten die gleichen Hobbys und Interessen.“ Simon Baranowski aus Köln war zwölf Jahre alt, als er nach dem Mauerfall zum ersten Mal in die DDR reist. Er besucht mit seiner Partnerin Sabine Seifert die Gedenkstätte.
Katharina Röther mit Tochter Nina an der Gedenkstätte Marienborn.
„Als wir drüben ankamen, wurde ich so stürmisch von fremden Menschen umarmt, dass meine Brille zerbrach.“ Katharina Röther aus Sachsen ist mit widersprüchlichen Gefühlen über die Grenze am Checkpoint Charlie in Berlin gegangen, als die Mauer gefallen ist. Für sie hätte es nicht sofort die Wiedervereinigung sein müssen. Dennoch fand sie es großartig, nicht mehr das Gefühl des Eingesperrtseins zu haben.
Teresa Awa in einem Gebäude der Gedenkstätte Marienborn.
„In meiner ersten Arbeitswoche habe ich dann auch mehr gelernt als in zwölf Jahren Geschichtsunterricht.“ Teresa Awa aus Magdeburg macht ihr Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) an der Gedenkstätte „Deutsche Teilung“ in Marienborn. Sie arbeitet viel mit Zeitzeugen und hilft dabei, die neue Dauerausstellung auf die Beine zu stellen.
Kathrin und Yves Graf vor einem Zaun an der Gedenkstätte Marienborn.
„Die Diskussion um den Unterschied zwischen Ost und West wird meiner Meinung nach künstlich am Leben erhalten und parteipolitisch genutzt.“ Kathrin und Yves Graf aus Fürstenwalde haben die Zeit nach dem Mauerfall etwas ängstlich gesehen: Wie sollte es jetzt weitergehen? Heute ist der Unterschied zwischen West und Ost aber kein Thema mehr für sie.
Gundula Lehr mit Familie vor der Gedenkstätte Marienborn.
„Ich bin dankbar, dass wir heute in Freiheit leben. Und ein bisschen fühle ich mich in die Kindheit zurückversetzt. Der Geruch, die Türen, die Schränke – alles wie damals.“ Gundula Lehr aus Stollberg im Erzgebirge beschreibt das Gefühl, wenn sie heute mit ihrer Familie durch die alten Grenzbaracken geht.


Die Geschichte muss weitererzählt werden

Die Gedenkstätte „Deutsche Teilung“ in Marienborn erinnert bis heute an das Ende der europäischen Teilung. 434 Beobachtungstürme und 1.000 Kontroll- und Sicherheitskräfte haben hier Reisedokumente, Personen und Autos überprüft.


Zwischen rostigen Lichtmasten, leeren Kontrollhäuschen und Beton beschreiben Ernst-Heinrich Wietfeld und Teresa Awa, wie Stacheldraht und Minenfelder ein Teil des Lebens waren, wie die Geschichte sich bis heute bemerkbar macht und dass sie weitererzählt werden muss.


Mit deutschen Klischees das Land näher zusammenbringen

Das Jubiläum des Mauerfalls wird in ganz Deutschland groß gefeiert. Die Bundesregierung hat zum Beispiel die aufwendige Kampagne „Deutschland ist eins: vieles“ gestartet. Die Kampagne soll das Land näher zusammenbringen und mit typischen deutschen Klischees zeigen: Wir sind ein Volk, und der 9. November 2019 ist ein einendes Jubiläum.

Sehnsucht nach Freiheit und Demokratie

Noch mehr Geschichten über die Zeit vor, während und nach dem Mauerfall lesen? Gibt es im kostenlosen change Magazin 2/2019.

In vielen Städten entlang der ehemaligen Grenze können Menschen außerdem über ihre Geschichten und Erinnerungen erzählen, die sie mit diesem besonderen Tag verbinden. Alles unter dem Motto: „Unsere Geschichte schreibt Zukunft“. Viele haben ihre Erlebnisse der vergangenen drei Jahrzehnten schon geteilt.

Die Mauer steht schon 30 Jahre nicht mehr. Doch wie steht es um die Demokratie heute? Das Projekt „Monitoring der Demokratie“ der Bertelsmann Stiftung erforscht, welchen Herausforderungen wir begegnen, in Deutschland und weltweit.