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Jana Hensel zur Wiedervereinigung: Mehr Wahrheit wagen!

Ein Graffiti, das Jana Hensel auf eine Mauer geprüht zeigt, wie sie eine Leiter hält. Im Hintergrund das Wort Melancholie.
Kommentar
Kristina Heldmann

Deutschland feiert … die Wiedervereinigung! Ein Kommentar von Jana Hensel

  • Jana Hensel
  • Kristina Heldmann
  • 01. Oktober 2019

29 Jahre Wiedervereinigung sind ein Grund zu feiern – aber auch zum Nachdenken. Warum sind sich drei Jahrzehnte nach dem Mauerfall Ossis und Wessis noch nicht ganz grün? Die Autorin Jana Hensel schlägt vor: „Mehr Wahrheit wagen!“

Die Autorin Jana Hensel

Jana Hensel

… gilt als eine der wichtigsten Stimmen des Ostens Deutschlands. Ihr Buch-Bestseller „Zonenkinder“ verhalf der Schriftstellerin international als Publizistin, Autorin und Journalistin zum Erfolg. Sie wurde 1976 in Borna geboren, wuchs in Leipzig auf und lebt in Berlin. Die Mutter eines Sohnes schreibt heute regelmäßig für DIE ZEIT und ZEIT online. Im Sommer erschien ihr neues Buch „Wie alles anders bleibt – Geschichten aus Ostdeutschland“.

Jana Hensel auf Twitter


Im vergangenen Jahr habe ich, offen gestanden mehr einer spontanen Laune als einem lange gehegten Plan folgend, einen Text geschrieben, der sinngemäß forderte, den 3. Oktober abzuschaffen. Ich meinte damit natürlich nicht den Tag an sich, sondern die offiziellen Feiern zum Tag der Deutschen Einheit. Das Programmheft dazu war mir zufällig in die Hände gefallen und in seiner Mischung aus Historisierung und guter Laune ziemlich auf die Nerven gegangen. Die allzu ausgelassene Feierstimmung schien mir in Anbetracht der Tatsache, dass Teile der ostdeutschen Gesellschaft im Zuge der sogenannten Flüchtlingskrise 2015 ziemlich weit nach rechts gerückt waren, sehr unpassend.

Überraschenderweise sahen das viele Leser*innen ähnlich. Ich bekam in den darauffolgenden Tagen viele zustimmende Reaktionen aus eigentlich allen Generationen und nahezu allen sozialen Milieus. Darunter waren auch viele Ostdeutsche, von denen man leichthin behaupten würde, dass sie es nach der Wiedervereinigung geschafft haben, also ein glückliches und auch auskömmliches Leben führen. Auch sie wollten sich der offiziell verordneten Perspektive nicht mehr unterordnen.

Die Ostdeutschen müssen sich in den Erzählungen wiederfinden

Ich dachte in den vergangenen Tagen wieder daran, auch weil wir uns mit großen Schritten auf das 30. Jubiläum des Mauerfalls zu bewegen. Seit Monaten laufen dazu die Vorbereitungen. In vielen Städten und Gemeinden werden Veranstaltungen, Gesprächsrunden und Podiumsdiskussionen durchgeführt. Dass dabei häufig Ostdeutsche unter sich bleiben, will ich nur am Rande erwähnen, obwohl es freilich viel über unseren Umgang mit dem eigentlich das ganze Land verändernden Ereignis aussagt.

Die Autorin Jana Hensel

„Die Herausforderung der nächsten Monate besteht nun darin, die Erfahrungen der Ostdeutschen seit dem Mauerfall so zu erzählen, dass die Menschen sich in den Erzählung wiederfinden. Mehr Wahrheit wagen, könnte man auch sagen.“

Jana Hensel, Schriftstellerin und Autorin


Ich möchte auf etwas anderes hinaus: Die Stimmung scheint vielerorts eher getrübt, die Veranstaltungen klingen eher nach dem Versuch, den Lauf der vergangenen 30 Jahre zumindest ambivalent und ausgewogen zu besprechen. Und ich muss gestehen: Ich halte das für einen Fortschritt, für die richtige Entwicklung. Die ostdeutsche Gegenwart ist ja schließlich auch zerklüftet, mitunter wund und aufgerieben. Und die Herausforderung der nächsten Monate besteht nun darin, die Erfahrungen der Ostdeutschen seit dem Mauerfall so zu erzählen, dass die Menschen sich in den Erzählungen wiederfinden, dass sie darin auf eine Art heimisch werden können, weil sie selbst diejenigen sind, die die Tonart setzen, den Klang bestimmen, die Interpretation liefern. Mehr Wahrheit wagen, könnte man auch sagen.

Mit dem sozialen Fahrstuhl nach unten gefahren

Ich weiß, es klingt in vielen westdeutschen Ohren nach einem Lamento, aber tatsächlich liegen in den allermeisten ostdeutschen Biografien Erfolg und Niederlage, Glück und Unglück, Euphorie und Melancholie ganz eng beieinander. Sie bedingen sich eher als dass sie einander ausschließen. In beinahe jeder Familie ist nach der Wiedervereinigung viel schiefgegangen und viel geglückt, war der eine erfolgreich, während der andere eher gescheitert ist. Da ist viel Grau, eigentlich nirgendwo Schwarz und Weiß, Richtig und Falsch. Darin unterscheiden sich die Ostdeutschen eigentlich von keiner anderen Gesellschaft auf der Welt. 

Junger Mann im Kapuzenpulli

Deutschland in Nahaufnahmen: Wie geht's unserem Land?


In Zahlen ausgedrückt bedeutet das: Während es den allermeisten ostdeutschen Familien heute im Vergleich zu ihrem Leben in der DDR ökonomisch besser geht, sind die allermeisten mit dem sozialen Fahrstuhl nach unten gefahren. Der Transformationsprozess hat eine für eine eigentlich entwickelte Gesellschaft unglaubliche soziale Mobilisierung und Veränderung ausgelöst. Viele haben ihre Positionen und ihren Status verloren, für die wenigsten zeigte diese Entwicklung nach oben. Auch deshalb diskutieren wir immer wieder über die fehlende Repräsentanz der Ostdeutschen in der gesamtdeutschen Elite. Dort machen sie insgesamt noch immer nicht mehr als ungefähr drei Prozent aus.   

Die Erinnerung nicht trüben lassen

Bei all der berechtigten Freude über die friedliche Revolution und den Mauerfall, über das unglaubliche Glück, bürgerliche Freiheitsrechte selbst erkämpft zu haben, dürfen wir diese Tatsachen nicht vergessen. Sie müssen unser Erinnern nicht trüben, aber wir sollten uns gewahr werden, dass, wenn wir sie ignorieren, sie zu einer Art Waffe derjenigen werden können, die unsere demokratische Grundordnung angreifen wollen. Das sollten wir doch um unsertwillen nicht zulassen, oder? 

In der Friedlichen Revolution 1989/90 haben die Ostdeutschen ihre bürgerlichen Freiheiten erkämpft. Doch wie steht es heute um die Demokratie? Das Projekt „Monitoring der Demokratie“ der Bertelsmann Stiftung erforscht, welchen Herausforderungen wir begegnen, in Deutschland und weltweit.