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change Magazin – Das Magazin der Bertelsmann Stiftung

Daniel Donskoy über Fluidität und Identität

Farbverlauf von blau nach pink
Essay
Pawel Czerwinski – unsplash.com/license

Fluidität / Fluidity / Флюидность

  • Daniel Donskoy
  • Pawel Czerwinski – unsplash.com/license
  • 03. Dezember 2021

Die Suche nach Sinnhaftigkeit regiert viele von uns. Der Wunsch nach Freiheit innerhalb eines Konstruktes – sei es in der Sozialisierung oder in der Arbeit, in emotionalen Bindungen oder sexuellen Vorlieben und Fantasien – ist allgegenwärtig. Aber wenn man ganz ehrlich ist, ist diese Freiheit doch selbst ein Konstrukt. Denn man nimmt immer in Kauf, nur frei innerhalb gewisser Parameter zu sein.

Das Foto zeigt ein Porträt von Daniel Donskoy in Schwarz-Weiß, mit seinem Ebenbild rechts im Zerrspiegel

Daniel Donskoy

... ist ein multinationaler Künstler, er ist Schauspieler, Musiker und Creative Producer. Seine Talkshow „Freitagnacht Jews“ erhielt 2021 den Deutschen Fernsehpreis.

Daniel Donskoy auf Twitter und Instagram


Lasst uns doch das Wort Freiheit durch Fluidität ersetzen und schon macht das Ganze mehr Sinn. Sich fluide, flüssig, wandelbar durch die Welt zu bewegen, müsste doch anstrebenswert sein. Und dennoch verbringen wir sehr, sehr viel Zeit mit Selbstanalysen im Innen oder werden von der Gesellschaft kategorisiert, um eben diese Fluidität, eine plurale Persönlichkeitsentfaltung, zu unterbinden. Passiert das bewusst? Bestimmt nicht immer.

Warum muss ich mich entscheiden?

Und wozu überhaupt diese Kategorisierung? Wie soll sich denn ein:e Jugendliche:r mit 18 Jahren entscheiden, welchem Beruf sie oder er nachgehen soll? Warum muss ich genau wissen, wo ich mich auf der Kinsey-Skala von komplett hetero bis absolut homo befinde? Muss ich genau wissen, was es bedeutet, Deutscher zu sein, um mich als solcher zu bezeichnen? Müssen wir alle ab dem ersten Lebensjahr in die Psychoanalyse?

Man kann zum Beispiel lange diskutieren, was es denn nun bedeutet, deutsch zu sein. Kürzlich wurde ich auf einer Reise mit politischen Akteur:innen nach einigen kritischen Worten meinerseits gegenüber der Bundesregierung gefragt und ob mein Herz für Deutschland schlage. Bin ich Deutscher – Migrant aus Russland? Bin ich ein in Berlin und Israel sozialisierter, jetzt in London und Berlin lebender Mann? Die Antwort ist – natürlich – zum Teil ja, das bin ich auch.
 

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Fühlen Sie sich deutsch?

Aber warum nicht all das zusammen? Für mich kein Problem, aber im Außen immer eine Herausforderung. Kann ein Herz überhaupt für ein Land schlagen? Wenn man in einem patriotischen Sozialkonstrukt aufwächst, kann ich verstehen, dass man durch das Zugehörigkeitsgefühl eine Art Freiheit empfindet. Aber auch hier handelt es sich doch nicht um echte Freiheit, sondern um das Aufgeben von individueller Identität.

Ich höre förmlich schon kritische Stimmen sagen: „Daniel, ja, du hast leicht reden, du bist ja auch ein Weltbürger!“ Und siehe da: die nächste Kategorisierung. Natürlich muss man nicht multikulturell aufgewachsen sein, um nationale identitäre Fluidität nachvollziehen oder fühlen zu können. Denn meine Gegenfrage wäre: „Fühlen Sie sich denn deutsch? Und wenn ja: Was bedeutet das?“

Wir gewöhnen uns an Gedankenmuster und Gefühle

Normalerweise ist es doch so, dass die Themenfelder im Innen und Außen, mit denen wir uns am meisten gedanklich und emotional befassen, den meisten Platz einnehmen. Wir gewöhnen uns an Gedankenmuster und Gefühle, und plötzlich dominiert ein kleiner Teil unserer Persönlichkeit die Erschaffung und Wahrnehmung unseres Weltbildes. Als marginalisierte Minderheit kann man sich natürlich viel mit der Oppression befassen, die einem entgegenschlägt. In meiner Sozialisierung als Migrant, aber vor allem auch als Jude in Deutschland, musste ich das zur Genüge tun, aber ich wollte nie diese Oppression, die zur tagtäglichen Realität gehört, mein Weltbild bestimmen lassen. Ergo kann man Antisemitismus erlebt haben, ohne Deutschland direkt mit eiligst gepackten Koffern verlassen zu wollen.

Daniel Donskoy

„Dass wir alle fluide sein können, beweisen wir täglich. Derselbe Mensch, der morgens oder auch nachts zur Arbeit geht, kommt irgendwann nach Hause – und hat in beiden Welten verschiedene Verantwortungen und Selbstwahrnehmungen.“

Daniel Donskoy


Fluidität ist keine Unentschlossenheit

Fluide, wandelbar zu sein, wird oft als Unentschlossenheit wahrgenommen. Jemand, der ohne Probleme von einer Welt in die andere schlittert, muss um Anerkennung und Respekt kämpfen. Multikulturelle Menschen sollen Flagge zeigen, bisexuelle Menschen werden immer wieder gefragt, zu welchem Geschlecht sie sich denn mehr hingezogen fühlen. Die Entscheidung, vielleicht mit 50 Jahren einen neuen Karriereweg einzuschlagen, wird oft mit staunenden Augen und mit Bedenken belegt. Dass wir aber alle fluide sein können, dass das in unserem Naturell liegt, beweisen wir täglich. Derselbe Mensch, der morgens oder auch nachts zur Arbeit geht, kommt irgendwann nach Hause – und hat in beiden Welten verschiedene Verantwortungen und Selbstwahrnehmungen. Das heißt: Wir sind alle in der Lage, in uns selbst eine facettenreiche Persönlichkeit zu erkennen. Dennoch gilt das Credo – und in Krisenzeiten umso mehr: Fokussiere dich auf deinen Kern. Aber was ist dieser Kern? Der Kern, den man selbst für sich entdeckt, oder das Label, welches die Gesellschaft einem gibt und fordert, dieses Label auch zu leben.
 

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Fragen, die unseren Kern berühren

Durch die Pandemie wurden wir alle gezwungen, uns mit unserem Kern zu beschäftigen. Hat das dazu geführt, dass sich nun normativ deutsch sozialisierte Menschen deutscher fühlen? Oder fallen in solchen Situationen plötzlich andere Selbsterkenntnisse ins eigene Wahrnehmungsfeld? Der Stolz, der Drang nach Anerkennung, die durchdringenden Fragen nach dem Sinn des Lebens?

Während wir nun aber alle sehr viel über Integrationspolitik sprechen, jedem Individuum erlauben wollen und wünschen, dass es sein selbst gewähltes Label auch leben darf, vergessen wir, dass wir auch hier oft eine plurale Identitätsform missbilligen.
 

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Unsere Innenwelt ist pluraler als die Schublade, in die wir gesteckt werden

Ob nun Frauenrechte, die Unterdrückung der LGBTQIA+ Community, Integrationspolitik oder Flüchtlingskrise: Als Erstes muss in unsere Wahrnehmung rücken, dass der Mensch, den wir einer Gruppe zugeteilt haben, für dessen Rechte wir gerade kämpfen, ein Wesen ist, dessen innere Welt viel pluraler und mehrdimensionaler ist als die Schublade, in die wir ihn gerade gepackt haben. Und dann, nur dann haben wir eine langfristige Chance auf eine Gesellschaft, die wirklich jeden Menschen so sein lässt, wie er ist. Ein fluides, wandelbares Wesen, das lernen, lieben und leben will.

Daniel Donskoys Essay wurde zuerst im change Magazin 02/2021 veröffentlicht. Das Magazin der Bertelsmann Stiftung gibt es kostenlos zum Download und als PDF-Abo. Jetzt lesen!