Was ist geblieben vom Arabischen Frühling?
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Mirco Keilberth
- 16. Juli 2021
Vor zehn Jahren wurden in der arabischen Welt Diktatoren vom Thron gefegt. Massenproteste dominierten Straßen und Plätze, die Menschen verlangten ein besseres Leben. Doch was ist aus den Rufen nach Freiheit, Arbeit und Würde geworden?
Tunesien, Ägypten, Libyen, Syrien, Marokko, Jemen, Bahrain – das sind nur einige Länder in Nordafrika und im Nahen Osten, in denen 2011 der Arabische Frühling losbrach. Nur einer dieser Staaten ist inzwischen eine Demokratie, wenn auch eine sehr zerbrechliche: Die Jasminrevolution im Januar 2011 hat Tunesien aus der Diktatur befreit. In den übrigen Ländern sieht es ganz anders aus. Der blutige Krieg in Syrien, verzweifelte Menschen auf der Flucht – die Bilder haben sich eingebrannt. change hat sich gefragt, was nach zehn Jahren Arabellion (wie der Arabische Frühling auch genannt wird) geblieben ist.
Zehn Jahre Arabischer Frühling
Alles begann mit einem Gemüsehändler. Aus Verzweiflung hatte sich der Tunesier Mohammed Bouazizi angezündet. Der traurige Tod des Gemüsehändlers war der Zündfunke für eine Protestwelle, die erst den tunesischen Diktator Ben Ali zur Flucht zwang und sich dann in weiten Teilen Nordafrikas und im Nahen Osten ausbreitete. Zehn Jahre ist das her. Im Podcast der Bertelsmann Stiftung zieht Nahost- und Nordafrika-Experte Christian Hanelt Bilanz und blickt in die Zukunft:
Folgen des Aufstands
Nur in Tunesien, wo die Arabellion ihren Anfang nahm, wurde eine zerbrechliche Demokratie geboren. In allen anderen Ländern herrscht entweder Krieg, Staatenlosigkeit oder es sitzen wieder autoritäre Regime fest im Sattel. Die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen des Aufstands sind alles in allem ernüchternd. Vor allem junge Menschen in den Ländern des Arabischen Frühlings sehen besorgt in die Zukunft: keine Arbeit, keine Perspektive, keine Mitbestimmung. Doch gerade die Jugend ist die treibende Kraft hinter Veränderung und will die Hoffnung nicht aufgeben. Dass der Funke der Revolution noch brennt, hat man 2019 in Ländern wie dem Sudan und Algerien gesehen. Auch in Tunesien flammten Anfang 2021 erneut Proteste auf, diesmal vor allem von jungen Menschen.
Positivbeispiel Tunesien: Die junge Demokratie
Obwohl Tunesiens Wirtschaft schwach ist, das Land von politischen Morden erschüttert wurde und ständig in der Angst vor Terroranschlägen lebt, haben die noch so jungen demokratischen Institutionen standgehalten. 2015 ging der Friedensnobelpreis an das tunesische „Quartett für den nationalen Dialog“, einen Zusammenschluss von vier zivilgesellschaftlichen Gruppen, die Tunesiens Demokratie verteidigt hatten, als sie akut zu scheitern drohte. Nirgendwo anders in der arabischen Welt arbeiten Menschenrechtsorganisationen so ungehindert und kämpfen queere Menschen so offen für ihre Rechte. Dass Tunesien trotz aller innenpolitischen Probleme weiter auf einem demokratischen Weg ist, ist umso erstaunlicher, wenn man sich in der Nachbarschaft umschaut: Libyen stagniert nach dem Bürgerkrieg im Waffenstillstand, Hunderttausende Libyer:innen suchen seit 2014 Zuflucht in Tunesien. Doch die tunesische Demokratie ist alles andere als gefestigt, das zeigen auch die jüngsten Proteste im Land.
Negativbeispiel Ägypten: Die Militärdiktatur
In der überwältigenden Mehrheit der Länder des Arabischen Frühlings ist die Lage weitaus schlechter als in Tunesien. In Ägypten etwa, wo sich nach einer kurzen Herrschaft der Muslimbrüder 2013 der Armeegeneral Abdel Fattah al-Sisi an die Macht geputscht hat (und nicht daran denkt, abzutreten), leben viele Einwohner:innen in Armut und Angst. Hier reicht schon ein falsches T-Shirt, um verhaftet zu werden. Menschen „verschwinden“ einfach, die Regierung ließ 17 neue große Gefängnisse bauen. Im Land gilt die Todesstrafe, über 3.000 Menschen wurden seit dem Putsch offiziell hingerichtet. Wirtschaftlich geht es Ägypten schlecht, das Land ist abhängig vom Tourismus und den Gebühren für die Fahrt durch den Suezkanal. Wie wackelig so ein Wirtschaftsmodell ist, haben die Corona-Krise und die unfreiwillige Kanalblockade durch die „Ever Given“ im März 2021 gezeigt. Jeden Tag entgingen Ägypten rund 15 Millionen Dollar an Einnahmen.
Corona-Krise als Brandbeschleuniger für Probleme und Dämpfer für Protest
Die Missstände, die in den Ländern Nordafrikas und in Nahost eh schon vorhanden waren, haben sich durch die Corona-Pandemie weiter verschärft. Es gibt keine sozialen Sicherungssysteme, viele Menschen sind ohne Arbeit, der Tourismussektor kam komplett zum Erliegen. Saisonarbeiter:innen aus Marokko und Tunesien beispielsweise, die sonst in Spanien und Italien auf den Feldern arbeiteten, gingen leer aus. Gleichzeitig wirkt die Pandemie als Dämpfer für die Protestbewegungen, die 2019 in Ländern wie Libanon, Algerien und dem Irak aufflammten.
Wie geht es weiter?
Einige sahen 2019 nach Erfolgen im Sudan und Protesten in Algerien schon eine Art zweiten Arabischen Frühling aufziehen, bis Corona-Ausgangssperren und Militärpatrouillen die Proteste unterdrückten. Doch die Ursachen für die Aufstände bleiben. Und auch wenn seit dem Ausbruch des Arabischen Frühlings Unfreiheit und Armut gewachsen sind, gibt es mutige Menschen, die sich für echten Wandel einsetzen – oft unter Einsatz ihres Lebens. Sie wollen die Hoffnung auf eine echte politische Zeitenwende nicht aufgeben.
Du willst mehr erfahren? In Folge #03 „Freiheit, Arbeit, Würde – 10 Jahre Arabischer Frühling“ des Podcasts „Zukunft gestalten“ der Bertelsmann Stiftung zieht Nahost- und Nordafrika-Experte Christian Hanelt Bilanz und wagt einen Ausblick. Er und seine Kolleg:innen beschäftigen sich im Projekt „Strategien für die EU-Nachbarschaft“ außerdem mit der Suche nach Antworten auf Krisen und Konflikte an den Grenzen der EU. Wohin sich Entwicklungs- und Transformationsländer bewegen, das analysiert der „Bertelsmann Transformation Index“.