Tunesiens Jugend: „Es ist die falsche Zeit, das Glück in Europa zu suchen“
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Mirco Keilberth
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Tunis, Tunesien
- 29. August 2018
Als 2011 friedlich protestierende Tunesier den Diktator Ben Ali verjagten, wehte ein Wind von Veränderung durch das Land. Der Arabische Frühling war geboren. Doch viele Probleme von damals bestehen fort. Tausende junge Menschen suchen ihr Glück in Europa. change hat mit drei jungen Tunesierinnen und Tunesiern gesprochen, die im Land bleiben und dort für Demokratie kämpfen.
Tunesiens Wirtschaft kommt nicht voran. Trotz kreditfinanzierten Wachstums und wieder gestiegener Exporte finden viele gerade junge Menschen keine Arbeit: 37 % der 15- bis 24-Jährigen haben keinen Job. Schattenwirtschaft, Korruption und geringe Steuereinnahmen lähmen das Land.
Tausende zieht es in die Hafenstädte Zarzis und Sfax oder in das benachbarte Libyen, von wo sie nach Lampedusa und Sizilien übersetzen. Sie fliehen aus Tunesien auf der Suche nach Arbeit und einem besseren Leben. Doch es gibt auch Chancen im neuen Tunesien. Das zeigen diese drei eindrucksvollen Biografien.
Chaima Bouhlel, 29
„Kein Wunder, dass die neun Regierungen nach 2011 nicht in der Lage waren, einen Ausweg aus der wirtschaftlichen Misere zu finden“, sagt die politische Aktivistin Chaima Bouhlel, die Politik und Biochemie in Harvard studiert hat. Sie ist mitten im Arabischen Frühling zurück nach Tunesien gekommen, „um das Vakuum nach der Revolution nicht den Radikalen oder alten Netzwerken zu überlassen“.
„Es ist die falsche Zeit, das Glück in Europa zu suchen.“
Chaima Bouhlel, 29
Die ehemalige Präsidentin von AlBawsala, einer NGO ähnlich wie abgeordnetenwatch.de, arbeitet heute für Barr al Aman. Die landesweite Radiosendung informiert über anstehende Wahlen und deckt Probleme mit der Bürokratie auf. Chaimas Botschaft an die tunesische Jugend: „Wir werden hier gebraucht.“
Tunesien
Das Land im Norden Afrikas ist das einzige, in dem die arabische Revolution fortlebt. Seit dem Beginn der Proteste im Dezember 2010 befindet sich Tunesien im Übergang von einer Diktatur zur Demokratie.
Rund 11 Millionen Einwohner hat Tunesien, 99 % davon sind Muslime. Islamistische Anschläge im Jahr 2015 verunsicherten viele Menschen. Eine der Haupteinnahmequellen des Landes, der Tourismus, brach ein. Mittlerweile hat sich das Land erholt und die Touristen kommen wieder.
Staatsoberhaupt ist seit Dezember 2014 Präsident Beji Caid Essebsi. Die aktuelle Regierung führt seit August 2016 Premierminister Youssef Chahed.
Haytem el Mekki, 32
Eine Million Hörer hat der Radiomoderator am Tag – und ist damit eine der einflussreichsten öffentlichen Personen im Land. Seine Sendung bei Mosaïque FM prangert offen Missstände an. Zum Beispiel die immer noch fehlende Trennung von Staat und Religion, die Benachteiligung von Frauen, die Homophobie. „Wir wurden zur meistgehörten Radioshow, weil ich einfach sage, was ich denke“, lacht Haytem.
„Ich sehe meine Aufgabe darin, Dinge anzusprechen, über die sich sonst keiner traut zu reden.“
Haytem el Mekki, 32
„Tunesien ist auf dem Weg, entweder zum ersten demokratischen Staat in der arabischen Welt zu werden – oder zu einer Bananenrepublik“, sagt der Radiomoderator. Dabei macht er sich keine Illusionen darüber, dass der Übergang zur Demokratie schwierig wird: „Es gibt niemanden, der mit mir völlig übereinstimmt, damit muss ich leben. In dieser Übergangszeit zwischen Diktatur und Demokratie muss man den Mut haben, es mit allen aufzunehmen und nicht zurückzuweichen.“
Wala Kasmi, 31
Unternehmerin Wala will der Jugend Job-Perspektiven geben. Mit ihrem Kurs „We Code Land“ bildet sie unter 30-Jährige technisch weiter: „Ob Akademiker oder Langzeitarbeitslose – We Code Land soll jeden befähigen, sich selbstständig zu machen. Anstatt auf die Regierung zu warten, wollen wir gerade der Jugend in den Regionen im Südwesten das Handwerkszeug geben, damit sie einen Kiosk, einen Onlineshop aufmachen kann.“
„Wir werden die Bürokratie- und Behördenmentalität, die Tunesien lähmt, nicht mit Wehklagen los, sondern nur durch Eigeninitiative.“
Wala Kasmi, 31
Die Gründerin des Start-ups „Synergy“ ist überzeugt, dass „die Allinclusive-Mentalität, die viele internationale Organisationen für die libysche und tunesische Jugend anbieten“, zu nichts führt. Daher bezahlen bei ihr alle Kursteilnehmer einen Beitrag. Wer wenig hat, bekommt eine Ermäßigung. „Ich möchte die Nehmermentalität eliminieren“, so Wala, die im Dezember 2017 zur Internetunternehmerin des Jahres gewählt wurde.
Mehr Informationen über Tunesien gibt es im Tunesien-Bericht des Bertelsmann Transformation Index BTI. Das BTI-Projekt untersucht Stärken und Schwächen der Steuerung von Transformationsprozessen weltweit. Mehr Informationen darüber gibt es hier.