„Ich bleib hier“: Warum Sarah Großstadt gegen Landleben eintauscht
-
Thomas Gasparini
-
Homberg (Efze)
- 14. Januar 2022
Abseits von deutschen Großstädten herrscht nichts außer gähnender Langeweile? Falsch! Auch das Dorfleben hat einiges zu bieten: Im vergangenen Sommer durften 20 Großstädter:innen beim „Summer of Pioneers“ ausprobieren, wie es sich in der hessischen Kleinstadt Homberg lebt. Was dort passierte und wie ein ganz neues Gemeinschaftsgefühl zwischen den Teilnehmer:innen entstand, erzählt Pionierin Sarah Ackermann im change Interview.
Sarah Ackermann ist als Teilnehmerin des „Summer of Pioneers“ von Frankfurt/Main in die hessische Kleinstadt Homberg (Efze) gezogen. Zusammen mit 19 anderen Kreativen und Digitalarbeiter:innen hat sie dort Ideen für neues Leben und Arbeiten auf dem Land entwickelt, darunter ein Konzept gegen den Leerstand in der Innenstadt oder einen Dialograum auf dem Marktplatz, um mit den Homberger:innen ins Gespräch zu kommen. Im Januar 2022 geht das Projekt in die zweite Runde – und Sarah ist wieder mit dabei. Was hält sie in dem 14.000-Seelen-Städtchen?
Sarah Ackermann …
… ist 35 Jahre alt und stammt aus Frankfurt/Main. Sie hat dort viele Jahre als Senior Projektmanagerin Digital in Werbeagenturen gearbeitet. 2020 ist sie in Teilzeit gewechselt, um in Eigenregie Webentwickelung zu lernen. Seit Sommer 2021 ist sie Teilnehmerin des „Summer of Pioneers“ in Homberg (Efze) und hat sich dort als Remote-Projektmanagerin und Tool-/Workflow-Beraterin selbstständig gemacht.
Sarah Ackermanns Website: hackermann.io
Website des „Summer of Pioneers“ in Homberg: homberg-pioneers.de
change | Hallo Sarah! Ursprünglich wart ihr 20 Digitalarbeiter:innen, die im Rahmen des „Summer of Pioneers“ ein halbes Jahr im ländlichen Homberg zur Probe gewohnt und gearbeitet haben. Nun gehörst du zu den acht, die verlängert haben und auch in der zweiten Runde dabei sind. Warum bist du geblieben?
Sarah Ackermann | Vor allem wegen der tollen Gemeinschaft. Wir sind im Mai 2021 alle ziemlich zeitgleich hergezogen. Als Gruppe von Gleichgesinnten in Homberg anzufangen, hat sehr geholfen, mich hier schnell einzugewöhnen. Uns Homies, wie wir uns nennen, eint die Lust, auf dem Land zu leben, hier neue Projekte anzustoßen und die Region zu beleben. Außerdem mag ich die Landschaft hier sehr und liebe es, Spaziergänge oder Ausflüge in die Umgebung zu machen.
„Vom anonymen Großstadtleben hatte ich genug.“
– Sarah Ackermann, Teilnehmerin des „Summer of Pioneers“
Du arbeitest tagsüber gemeinsam mit den anderen Pionier:innen im Co-Working-Space, abends verbringt ihr oft eure Freizeit zusammen oder arbeitet gemeinsam an Projekten. Ein Großteil von euch lebt nur wenige Gehminuten voneinander entfernt rund um den Homberger Marktplatz, mit zweien wohnst du in einer WG. Ist dir das nicht zu eng?
Das habe ich anfangs auch befürchtet. Aber das Gegenteil ist der Fall: Ich finde den Zusammenhalt sehr schön. Zu wissen, dass die anderen für einen da sind, wenn man mal krank ist oder auch nur, wenn man spontan Lust auf einen Wein mit netten Leuten hat. Vom anonymen Großstadtleben hatte ich genug. In der Metropolregion Frankfurt, wo ich vorher gelebt habe, kannte ich zum Teil nicht mal meine Nachbar:innen. Was auch ein großer Vorteil gegenüber der Großstadt ist: Die Dienstwege sind hier sehr kurz. Als wir im Sommer einen Open-Air-Kinoabend veranstaltet haben, störte das Licht einiger Straßenlaternen. Die Gemeinde schaltete sie daraufhin kurzerhand aus.
Gibt es einen Pioneer-Moment, an den du dich besonders gern erinnerst?
Das war bei besagtem Open-Air-Kinoabend: Eine Stunde bevor es losgehen sollte, hat es in Strömen geregnet. Wir dachten, bei dem Wetter würde niemand kommen. Zum Glück hörte es rechtzeitig auf zu regnen, es waren aber immer noch recht wenige Leute da. Kurz vor dem Start schauten wir die Straße runter – wo Dutzende Menschen im Anmarsch waren. In dem Moment ging mir das Herz auf. Und ich erinnere mich gern an den Abend, an dem ich mich entschieden habe, in Homberg zu bleiben: Ich saß mit ein paar Homies auf dem Marktplatz in der Abendsonne. In dem Moment sagte mir mein Bauchgefühl: „Ich bleib hier.“
Die erste Runde des „Summer of Pioneers“ endete im Oktober. Mehr als die Hälfte der Teilnehmer:innen ist wieder gegangen – und das Landleben ist im Winter sicher anders als im Sommer. Wie kommst du mit den neuen Bedingungen klar?
Ich hätte gedacht, dass hier weniger los sein würde, aber das empfinde ich nicht so. Wir treffen uns nach wie vor sehr häufig, kochen zusammen in unserer Gemeinschaftsküche oder trinken einen Wein. Was unsere Projekte angeht, ist es durchaus ruhiger geworden. Veranstaltungen, die wir im Sommer organisiert haben, wie das Open-Air-Kino oder Musik auf dem Burgberg, fallen jetzt natürlich weg. Viele Hiergebliebene nutzen die Zeit für eine Atempause, weil im Sommer so viel los war: Die meisten haben die Projekte neben ihrem Vollzeitjob umgesetzt. Daneben wollten wir uns kennen lernen, Zeit miteinander verbringen und Homberg erleben. Das war ein volles Programm.
Wie nutzt du die ruhigere Zeit?
Ich kann nicht behaupten, dass sie für mich ruhiger ist. Seit November arbeite ich als selbstständige Projektmanagerin. Im Moment sitze ich deshalb viel vor dem Laptop und nutze die schöne Natur gar nicht, die Homberg und Umgebung zu bieten haben. Ich hoffe aber, dass sich das spätestens im Frühjahr wieder ändert.
Was genau ist der „Summer of Pioneers“?
Mit dem Projekt „Summer of Pioneers“ soll Kleinstädten neues Leben eingehaucht werden. Das Netzwerk Neulandia organisiert das Probewohnen und Co-Working auf dem Land, aktuell in Homberg (Efze). Weil viele Menschen die Region in den letzten Jahren verlassen haben, gibt es im Ort viel Leerstand.
Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, hat die Stadt 20 Menschen aus deutschen Großstädten dazu eingeladen, den Sommer auf dem Land in Homberg zu verbringen und mit den alteingesessenen Homberger:innen an Konzepten zu arbeiten, mit denen das Städtchen langfristig wieder attraktiver werden kann. Nach den sechs Monaten haben einige Pioneers Homberg wieder verlassen, andere haben sich entschieden, vorerst zu bleiben. Im Januar 2022 geht der „Summer of Pioneers“ mit einigen neuen Teilnehmer:innen in die zweite Runde.
Zum Instagram-Account des „Summer of Pioneers“
Du bist als angestellte Projektmanagerin nach Homberg gekommen und hast hier zunächst im Homeoffice gearbeitet. Welche Rolle hat deine Teilnahme am „Summer of Pioneers“ bei der Entscheidung für die Selbstständigkeit gespielt?
Eine sehr große. Unter den Pioneers sind viele Gründer:innen und Freelancer:innen. Ich habe schon länger mit dem Gedanken gespielt, selbstständig zu arbeiten, und der Austausch mit ihnen gab mir den entscheidenden Ruck. Ich konnte ihnen Löcher in den Bauch fragen, über Aufträge, Steuern, Honorare. Auch ein wichtiger Faktor: Jede:r von uns zahlt 150 Euro Miete im Monat, inklusive WLAN und Nutzung des Co-Working-Space. Da ist es kein Weltuntergang, wenn ich mal weniger Aufträge habe. Das ist ein riesiger Vorteil im Vergleich zur Großstadt, wo die Miete mein mit Abstand größter Kostenfaktor war.
„Ich freue mich total auf die Neuankömmlinge und bin gespannt, was sie an Erfahrungen, Ideen und Impulsen einbringen.“
– Sarah Ackermann, Teilnehmerin des „Summer of Pioneers“
Wenn der „Summer of Pioneers“ im Januar 2022 in die zweite Runde geht, stößt rund ein Dutzend neuer Teilnehmer:innen zu euch. Wie siehst du der Neuauflage entgegen?
Ich freue mich total auf die Neuankömmlinge und bin gespannt, was sie an Erfahrungen, Ideen und Impulsen einbringen. Natürlich gibt es auch Herausforderungen: Nach den aktuellen Corona-Auflagen dürfen wir nicht in der großen Gruppe zusammenkommen. Ich habe etwas Sorge, dass sich dadurch Grüppchen bilden und die Neuen vielleicht eher unter sich bleiben. Aber wir werden Lösungen finden. Als wir im Mai starteten, waren die Maßnahmen auch sehr streng. Wir haben uns strikt daran gehalten und sind trotzdem innerhalb kurzer Zeit eng zusammengewachsen. Ich bin mir sicher, das wird jetzt auch der Fall.
Kommunen haben es nicht leicht auf ihrem Weg zwischen demografischem Wandel und Digitalisierung. Mit dem Projekt „Smart Country“ unterstützt die Bertelsmann Stiftung bei der Bewältigung von Zukunftsaufgaben. Außerdem sorgt die Initiative „Digitale Landpioniere“ dafür, die Erfahrungen von Menschen zusammenzutragen, die den ländlichen Raum mit kreativen Ideen voranbringen.