So lernst du, mit Widersprüchen umzugehen
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- 19. September 2022
Wir sind nicht alle einer Meinung. Das wäre ja auch zu einfach. Stattdessen ist die Welt voller unterschiedlicher Haltungen und Widersprüche. Philipp Hommelsheim hat Tipps, wie wir uns gegenseitig besser verstehen und weniger vorschnelle Urteile fällen.
Dir sind sicherlich schon einmal Fragen begegnet, auf die es kein klares Ja oder Nein als Antwort gibt. Denn die Welt ist viel komplizierter als ein einfaches Entweder-oder. Vier Denkwerkzeuge, Prinzipien und Haltungen können dir jedoch helfen, mit Widersprüchen umzugehen und bessere Entscheidungen zu treffen.
Philipp Hommelsheim
… ist Unternehmer, Berater für Innovations- und Risikomanagement und Lehrbeauftragter an der Internationalen Psychoanalytischen Universität Berlin. Für den Sammelband „Update Wirtschaft für Gesellschaft“ steuerte er den Beitrag „Missverstehen wir uns richtig! Über die Notwendigkeit gelingender Verständigung in Gesellschaft und Ökonomie“ bei.
In manchen Fragen sind sich fast alle einig
Es gibt Fragen, auf die es ganz klare Antworten gibt. Das ist oft bei naturwissenschaftlichen Fragen der Fall, bei den Antworten zu ihnen herrscht Einigkeit. Ist die Erde rund oder flach? Nur Flat-Earther:innen würden Letzteres behaupten. Für die absolute Mehrheit der Menschen ist jedoch klar, dass wir auf einer Kugel – nun ja, okay, einem Ellipsoid – leben. Doch wie steht es um Fragen, die nicht so absolut und kategorisch zu beantworten sind?
Andere Fragen lassen mehrere, widersprüchliche Antworten zu
Sollte die Laufzeit von Atomkraftwerken verlängert werden? Bist du bereit, für mehr Sicherheit auf Freiheit zu verzichten? Oder etwas weniger hochtrabend: Findest du das change Magazin gut? (Obwohl wir bei dieser Frage eine eindeutige Antwortpräferenz haben.) Fragen, die nicht auf naturwissenschaftliche oder mathematische Probleme abzielen, lassen oft verschiedene Antworten zu. Und die können sich auch widersprechen. Trotzdem neigen wir dazu, in den Kategorien „richtig“ und „falsch“ zu denken, wenn es zum Beispiel um soziale Fragestellungen geht, schreibt Philipp Hommelsheim in seinem Beitrag „Missverstehen wir uns richtig! Über die Notwendigkeit gelingender Verständigung in Gesellschaft und Ökonomie“. Seine Schlussfolgerung: Wir müssen lernen, mit Widersprüchen umzugehen.
Eigene Positionen zu haben ist gut – offen für andere Meinungen zu sein auch
Klar hast du in vielen Dingen eine eigene Meinung – und das ist auch gut so. Kritisch wird es laut Philipp Hommelsheim dann, wenn wir Menschen mit anderer Meinung oder Andersdenkenden nur konfrontativ oder abwertend begegnen. „Das befördert eine Diskurs- und Debattenkultur, in der die Beteiligten während eines Gesprächs nur darauf warten, ihren Punkt zu machen – ohne aufrichtiges Interesse an der Gegenposition und ohne die zumindest probeweise Unterstellung, dass es für diese andere Position gute Gründe und sachliche Argumente gibt, die man selbst kennen und verstehen sollte“, schreibt er. Das führt dazu, dass wir es uns in unserer eigenen Filterblase bequem machen, und verhindert Perspektivenvielfalt.
„Wer echte Vielfalt ernsthaft möchte – egal in welchem gesellschaftlichen Bereich –, muss auch mit dem gesteigerten Kommunikations- und Verständigungsbedarf rechnen.“
– Philipp Hommelsheim
Wir müssen uns um das Verstehen bemühen
Geh also einen Schritt zurück und versuche, andere Meinungen zu verstehen, bevor du dir vorschnell ein Urteil bildest. Philipp Hommelsheim skizziert dafür vier Denkwerkzeuge, Prinzipien und Haltungen, um mit Widersprüchen in mehrdeutigen Entscheidungssituationen umzugehen:
1. Kenne den Unterschied zwischen Konflikt und Missverständnis
Konflikte und Missverständnisse sind nicht dasselbe. „Echte Konflikte können nicht gelöst, sondern nur bearbeitet werden“, schreibt Hommelsheim. Denn in Konflikten stoßen widersprüchliche Interessen aufeinander, und unterschiedliche Parteien wollen ihre entgegengesetzten Interessen durchsetzen (das lateinische Wort „confligere“ bedeutet übrigens sowohl „zusammentreffen“ als auch „kämpfen“). Missverständnisse sind hingegen auflösbar, denn sie sind eine kommunikative Störung, die man allein mit Nachfragen oder Wiederholen oft ausräumen kann.
2. Kenne auch den Unterschied zwischen Möglichkeit und Notwendigkeit
Wenn du unterschiedliche Lösungsvorschläge für Streitfragen als Möglichkeiten siehst und nicht als Notwendigkeiten, wird dein Leben viel entspannter. Möglichkeiten erlauben eine offene Diskussion, in der auch Alternativen entwickelt werden können. Notwendigkeiten erscheinen hingegen indiskutabel. „Notwendigkeitsdiskussionen verengen den Lösungshorizont und begünstigen polarisierende Gesprächsverläufe“, so Philipp Hommelsheim.
3. Verwende sprachliche Ausdrücke, die den Austausch anregen
„Es macht einen Unterschied, ob ich im Gespräch äußere: ‚Das siehst du falsch‘ oder ‚Da hast du Unrecht‘ oder ob ich sage: ‚Ich stimme dir in diesem Punkt nicht zu‘ oder ‚Das sehe ich anders‘“, stellt Hommelsheim fest. Wenn verschiedene Standpunkte ausgetauscht werden, geht es nicht darum, sich auf eine einzig wahre Wahrheit festzulegen. Du kannst verschiedene Argumente gleichberechtigt anerkennen! Das hilft beim Finden einer gemeinsamen Lösung, zum Beispiel in der Uni oder im Job, wenn verschiedene Meinungen aufeinandertreffen, du aber auf Kooperation angewiesen bist.
4. Du weißt es nicht? Macht nichts!
Wenn du dir bewusst machst, dass dein Wissen nicht allumfassend ist, hast du einen wichtigen Schritt getan, um aufgeschlossener mit anderen Meinungen und Widersprüchen umzugehen. Es gibt viele Dinge, die du nicht weißt, und viele Informationen, die du nicht kennst – da ergibt es nur Sinn, dass andere Menschen mit anderem Informations- und Wissensstand zu anderen Entscheidungen kommen können. Wenn du vor eigenen wichtigen Entscheidungen mehrere Meinungen und andere Perspektiven würdigst, stehen die Chancen gut, dass deine Entscheidung besser wird.
Mut zur Kontroverse! Die Bertelsmann Stiftung tritt für offenen Austausch und Perspektivenvielfalt ein. Mit ihren Studien, Projekten und Publikationen will sie zu einer vielstimmigen Debattenkultur beitragen.