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Proteste im Iran: Nahostexperte erklärt die Lage

Ein Protestschild mit der Aufschrift "Woman, Life, Freedom" Tianlei Wu – unsplash.com/license

Frag den Experten: Was passiert gerade im Iran, Christian Hanelt?

  • Tianlei Wu – unsplash.com/license
  • 16. Januar 2023

Seit Mitte September protestieren die Menschen im Iran unter dem Motto „Jin, Jiyan, Azadî“, zu Deutsch „Frau, Leben, Freiheit“. Trotz brutaler Reaktionen des Regimes geben die Menschen nicht auf und gehen weiter auf die Straße. change hat Christian Hanelt, Nahostexperte bei der Bertelsmann Stiftung, zu den Hintergründen der Protestbewegung befragt.

Mit einer Fläche dreimal so groß wie Deutschland und über 90 Millionen Einwohner:innen ist der Iran eine bedeutende Regionalmacht im Nahen Osten. In Deutschland lebt zudem eine große iranische Community: Schätzungsweise 183.000 Exil-Iraner:innen sind hier zu Hause. Ein Grund mehr, die Proteste im Iran genauer unter die Lupe zu nehmen.

Porträt von Christian Hanelt

Christian Hanelt

… ist Politikwissenschaftler und Senior-Experte für Europa, die europäische Nachbarschaft und den Nahen Osten bei der Bertelsmann Stiftung. Zuvor arbeitete er als Journalist mit dem Schwerpunkt Nahost für die TV-Sender ZDF und SAT.1. In dieser Zeit führte er Interviews mit einigen umstrittenen Staatschefs, unter anderem dem Libyer Muammar al-Gaddafi und dem Palästinenser Jassir Arafat.


change | Herr Hanelt, danke, dass Sie sich Zeit nehmen. Zuerst: Wogegen protestieren die Menschen im Iran?

Christian Hanelt | Auslöser dieser Protestwelle war Mitte September 2022 der gewaltsame Tod der iranischen Kurdin Jina Mahsa Amini in Polizeigewahrsam. Die Ursachen der Proteste reichen allerdings viel tiefer. Seit der islamischen Revolution 1979 haben sich die Hoffnungen vieler Iraner:innen auf Freiheit, Lebenschancen und Wohlstand eigentlich nicht erfüllt. Zu teils auch größeren Protestbewegungen kommt es daher seit Langem, zu nennen sind da beispielsweise die Massendemonstrationen gegen die Wahlfälschung aus dem Jahre 2009, die sogenannte „Grüne Bewegung“, oder die Proteste gegen eine Erhöhung der Spritpreise 2018.

Gibt es weitere Gründe für Massenproteste?

Ja, hinzu kommt, dass die wirtschaftliche Situation im Land seit Jahren immer schlechter wird. Missmanagement und Korruption des Regimes haben die Lebensbedingungen vieler Menschen schwierig gemacht. In der Vergangenheit gab es immer wieder die Hoffnung auf politische und wirtschaftliche Reformen. Diese Hoffnungen haben sich jedoch mit der Wahl des politischen Hardliners Ebrahim Raisi zum Staatspräsidenten 2021 zerschlagen. Umso lauter sind jetzt die Rufe nach dem Ende des Regimes.
 


Warum war ausgerechnet der Tod der iranischen Kurdin Jina Mahsa Amini Auslöser der Proteste?

Der Tod von Jina Mahsa Amini war gewissermaßen der Tropfen, der das Fass des Frustes über die Fremdbestimmung durch die Kontrolleur:innen des Regimes zum Überlaufen gebracht hat. Nachdem sie bei einem Besuch in der iranischen Hauptstadt Teheran von der dortigen Sittenpolizei festgenommen worden war, weil sie angeblich ihr Kopftuch nicht korrekt getragen hatte, fiel Amini in Polizeigewahrsam ins Koma und starb wenig später in einem Teheraner Krankenhaus. Aminis Eltern veröffentlichten daraufhin Aufnahmen von ihr im Krankenhausbett, die Bilder verbreiteten sich schnell über die sozialen Netzwerke und bereits am Tag ihres Todes versammelten sich Menschen vor dem Krankenhaus, um gegen die Sittenpolizei zu protestieren.

„Angeführt werden die Proteste von mutigen Frauen, die den im Iran obligatorischen Schleier als Symbol ihrer Unterdrückung ausziehen und sich dem Gewaltapparat des Regimes widersetzen.“

– Christian Hanelt, Nahostexperte der Bertelsmann Stiftung


Was geschah dann?

Seitdem geht eine Protestwelle durchs ganze Land. Angeführt werden die Proteste von mutigen Frauen, die den im Iran obligatorischen Schleier als Symbol ihrer Unterdrückung ausziehen und sich dem Gewaltapparat des Regimes widersetzen. Eine wichtige Rolle spielt dabei die jüngere Generation. Bilder von Schüler:innen und Studierenden, die sich den Schlägertrupps entgegenstellen, gehen um die Welt. Entscheidend ist außerdem, dass immer wieder auch Händler:innen und Arbeiter:innen über Streiks Solidarität mit der Protestbewegung bekunden. Auch Kunst- und Kulturschaffende sowie Sportler:innen und Menschenrechtsaktivist:innen unterstützen die Protestbewegung mit teils medienwirksamen Aktionen. Aber eine kritische Masse an Millionen von Menschen, die über eine lange Zeit protestieren und streiken und so den Bestand des Regimes gefährden, hat sich noch nicht formiert. Ein Grund dafür sind die heftigen Repressalien des Regimes gegen die Protestierenden sein.

Tausende Menschen sind im Iran im Gefängnis, werden dort teils gefoltert, weil sie gegen das Regime auf die Straße gegangen sind, Hunderte wurden bereits bei den Protesten getötet. Vier Demonstrierende wurden bis in den Januar bereits vom Regime hingerichtet, siebzehn weitere zum Tode verurteilt. Was sagen diese Reaktionen über den Zustand des Regimes aus?

Es ist sehr schwer vorstellbar, dass das Regime sich reformiert und die gesamte Bevölkerung davon profitiert. Mit den Protesten und der harschen Reaktion des Regimes zeigt sich eher, dass die Herrschenden ihre ideologische, politische und wirtschaftliche Legitimation zu regieren verloren haben – aber trotzdem an der Macht festhalten wollen. Ein religionsbasierter Herrschaftsanspruch zieht nicht mehr, viele Frauen reißen ihre Schleier von den Köpfen. Durch die Entwertung von Wahlen und die Ausrichtung von Justiz und Polizei auf den Willen der Herrschenden haben diese ihre politische Legitimation in den Augen der Bevölkerung verloren. Die überall sichtbare grassierende Korruption und die Verteilung von finanziellen Ressourcen an Unterstützer:innen und Handlanger:innen des Regimes haben den Glauben von großen Teilen der Bevölkerung an Wohlstand für alle völlig schwinden lassen.
 

Die Menschenrechtsaktivistin Düzen Tekkal steht vor einer hellgrauen Wand, den Oberkörper zu uns gewendet. Ihre linke Hand ruht auf einem Geländer. Sie schaut leicht lächelnd in die Kamera.

„Wir wollen nicht, dass die Welt diesen Völkermord vergisst“


Das Mullah-Regime regiert den Iran seit über 40 Jahren mit harter Hand. Zahlreiche Regimegegner:innen sind in den Gefängnissen des Landes, es wird von Folter berichtet, immer wieder kommt es zu Hinrichtungen. Was hat der Westen historisch damit zu tun?

Der Westen ist nicht unschuldig an einigen politischen Entwicklungen im Iran in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Ich möchte auch auf die historische Verantwortung der USA und des Vereinigten Königreichs hinweisen. Ihre Geheimdienste haben 1953 tatkräftig mitgeholfen, Mohammed Mossadegh, den ersten demokratisch gewählten Ministerpräsidenten des Iran, zu stürzen, nachdem dieser angekündigt hatte, die iranischen Ölquellen in den Besitz des iranischen Staates zu überführen und dem einseitigen Profit für die Ölmultis aus den USA und Großbritannien zu entziehen. Der Westen half, den Schah als Staatsoberhaupt zu installieren und ihn als vermeintlichen Freund militärisch aufzurüsten. Übrigens war es der Schah, der das iranische Atomprogramm aufbaute und einen gefürchteten Geheimdienst aufrüstete. Diese Instrumente wurden 1979 nach der Revolution vom islamistischen Regime weiter ausgebaut.
 

FAQ zu den Protesten im Iran

Wo kannst du dich informieren?

Für deutsche Medien ist es nicht leicht, zu erfahren, was sich genau im Iran abspielt, weil nur wenige Journalist:innen Akkreditierungen für das Land bekommen. Eine gute Möglichkeit für Informationen bietet Twitter, zum Beispiel der Kanal der ehemaligen Iran-Korrespondentin Natalie Amiri oder der Journalistin und Iran-Expertin Gilda Sahebi. Im Podcast „Das IRAN Update“ geben die Hosts Gilda Sahebi und Sahar Eslah außerdem einen wöchentlichen Überblick über aktuelle Entwicklungen.

Was kannst du tun, um die Protestierenden zu unterstützen?

In zahlreichen deutschen Städten gibt es regelmäßige Solidaritätskundgebungen mit den Protestierenden im Iran. Je mehr Menschen daran teilnehmen, umso mehr erkennt auch die Bundesregierung, dass sie sich stärker im Sinne der Forderungem der Protestierenden verhalten sollte.

Wie kannst du außerdem helfen?

Wenn du ganz konkret von zu Hause helfen willst, dann starte doch eine Snowflake über deinen Browser. Das Tor-Netzwerk hilft weltweit Menschen aus Regionen mit eingeschränktem Internet, die Zensur zu umgehen. Ein wichtiges Instrument, um beispielsweise den Menschen im Iran uneingeschränkten Zugang zum Internet zu ermöglichen.

Ein Demonstrant hält ein Schild mit der Aufschrift "Frau. Leben. Freiheit. #Mahsaamini"


Können andere Regierungen etwas tun, um die Protestierenden zu unterstützen, beispielsweise über Sanktionen?

Die EU und der Westen haben durchaus Möglichkeiten, die Freiheitsbewegung im Iran zu unterstützen. Die 27 EU-Mitgliedstaaten haben in den letzten Monaten mehrere Sanktionspakete erlassen. Kanada sanktioniert bereits zahlreiche Mitglieder der iranischen Revolutionsgarden: Deren kanadische Konten sind eingefroren und die Mitglieder dürfen nicht ins Land einreisen. Ähnlich geht die EU vor und möge diesen Kurs auch weiter verfolgen: illegal erlangte Vermögen von Mitgliedern des Regierungsapparats, die in europäischen Banken liegen, einfrieren und Reisen nach Europa für alle unterbinden, die für die brutalen Unterdrückungsmaßnahmen verantwortlich sind. Momentan wird auch darüber diskutiert, die paramilitärische Einheit der "Revolutionsgarden" in Gänze als Terrororganisation zu listen. 

Gibt es auch – abgesehen von Sanktionen gegen das Regime – Möglichkeiten, die iranische Protestbewegung zu unterstützen?

Aufgrund der Demonstrationen wurde das Internet im Land stark gedrosselt und die sozialen Medien massiv eingeschränkt. Durch gezielte technische Unterstützung kann auch der Westen den Protestierenden dabei helfen, die Internetblockade des Regimes zu umgehen. Es wurde berichtet, dass eine in Düsseldorf ansässige Firma das iranische Innenministerium darin unterstützt, das Internet vor Ort zu verlangsamen oder abzuschalten. Solche Geschäftsbeziehungen müssen aufgedeckt und unterbunden werden. Bemerkenswert ist an dieser Stelle jedoch auch, dass zahlreiche deutsche Politiker:innen Patenschaften für im Iran gefangene Protestierende übernommen haben und sich für deren Freilassung einsetzen, indem sie beispielsweise Briefe an den iranischen Botschafter in Berlin schreiben.

Momentan gibt es aufgrund der Proteste zwar bereits Sanktionen beziehungsweise Sanktionspakete, die auf den Weg gebracht sind, jedoch scheinen diese das Regime noch nicht von seinem Kurs abzubringen. Spielt hier auch die Sorge vor möglichen Bedrohungen durch den Iran eine Rolle?

Vom iranischen Regime geht in vier verschiedene Richtungen eine Herausforderung, gar Bedrohung aus. Die erste ist eine innenpolitische und beschreibt die Defizite an Freiheiten, Mitbestimmung und Rechtsstaatlichkeit. Die zweite Bedrohung für uns in Europa ist die Waffenlieferung Irans an Russland. Die russische Armee setzt beispielsweise iranische Drohnen ein, um in der Ukraine Infrastruktur zu zerstören. Die dritte Bedrohung empfinden die Nachbarn Irans in diversen arabischen Staaten und in Israel. Das Mullah-Regime unterstützt verschiedene Milizen wie die Hisbollah im Libanon sowie Kampfgruppen in Syrien, dem Irak und dem Jemen und ist dadurch mitverantwortlich für die dort stattfindenden Kriege und Konflikte, die Menschen töten und vertreiben. Die vierte Bedrohung geht für diese nahöstlichen Nachbarn, und gegebenenfalls auch für den Westen, von einer Weiterentwicklung des iranischen Atomprogramms in Kombination mit einem Ausbau des Raketenarsenals aus, das Atomsprengköpfe tragen könnte.

Ein Mann schaut durch eine Lupe

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Deutschland ist der wichtigste europäische Handelspartner des iranischen Regimes. Warum machen deutsche Firmen weiterhin Geschäfte mit dem Iran und stützen dabei das Regime trotz der Menschenrechtsverletzungen, die mindestens seit Aufkommen der Proteste dort tagtäglich geschehen?

Ich bin erstaunt, dass europäische und deutsche Firmen trotz des umfangreichen Sanktionsregimes, das über Jahre gegen den Iran besteht, immer noch wohl auch lukrative Geschäftsbeziehungen bis ins Jahr 2022 hinein entwickelt haben. Die iranische Wirtschaft und das Finanzsystem stützen sich jedoch in erster Linie auf ihre umfangreichen ökonomischen Beziehungen mit China, Russland, Indien und der Türkei.
 


Wie stehen die Chancen, dass das Mullah-Regime tatsächlich abgelöst wird?

Es ist schwer vorstellbar, dass der Religionsführer und seine Netzwerke sang- und klanglos abtreten. Sie werden um ihre Privilegien kämpfen und dementsprechend weiter brutal gegen die Protestierenden vorgehen. Die Hinrichtungen und Hinrichtungsankündigungen, die umfangreichen Repressalien gegen die Demonstrierenden, Sympathisant:innen und deren Familien sowie die hohe Zahl an Gefangenen und die Berichte über Folterungen haben sich auf die Proteste ausgewirkt: Mittlerweile sind Anzahl und Umfang der Protestaktionen weniger geworden. Nichtsdestotrotz kann es passieren, dass sich in der Herrschaftsspitze Brüche zeigen und die Revolutionsgarden, eine mächtige Militäreinheit des Religionsführers, die Herrschaft an sich reißen, die Mullahs entmachten und eine Militärdiktatur errichten. Brüche im Regime können auch zutage treten, wenn der alte, als krank geltende Religionsführer Ali Chamenei stirbt. Chamenei will seinen Sohn, einen nicht religiösen Würdenträger, als Nachfolger installieren, was viele Mullahs nicht befürworten. Auch möglich ist, dass die Herrschenden der Bevölkerung mit der Gewährung von Freiheiten und wirtschaftlicher Wohlfahrt sichtbar entgegenkommen, allerdings ist mit der zunehmenden Gewalt gegen die Protestierenden deren Glaube an Zusicherung durch die Herrschaft eher mehr und mehr erschüttert. Die Proteste können abflauen und in naher Zukunft in anderer Form wieder das Regime herausfordern. Die Proteste, Streiks und Demonstrationen, die im Frühjahr 1979 zum Sturz des Regimes geführt haben, haben fast zwei Jahre angedauert, bis der Schah schließlich ins Exil geflüchtet ist.

Vielen Dank für Ihre Einschätzung, Herr Hanelt!

Der BTI Transformationsindex der Bertelsmann Stiftung nimmt weltweit staatliche Transfomationsprozesse in den Blick. Auch mit den Entwicklungen der Proteste im Iran setzten sich die Expert:innen auseinander.