Das müssen sich Eltern in Mehrkindfamilien alles anhören
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- 06. Februar 2023
Hast du zwei oder mehr Geschwister? Dann kann es gut sein, dass deine Familie schon einmal mit den in Deutschland weitverbreiteten Klischees über Mehrkindfamilien konfrontiert wurde. Warum diese Klischees falsch sind und warum es ein Umdenken braucht – change erklärt’s.
Die „Normalfamilie“ in Deutschland besteht aus einem Paar mit ein bis zwei Kindern. Familienformen, die von diesem Modell abweichen, sehen sich auch heute noch mit Vorurteilen konfrontiert. So geht es auch Mehrkindfamilien, also Familien mit drei oder mehr Kindern. Das sind in Deutschland 15,8 Prozent aller Familien.
Klischees über kinderreiche Familien gibt es noch immer
Wenn man den Klischees glauben will, sind Mehrkindfamilien entweder wohlhabend und privilegiert – die Eltern können sich viele Kinder „leisten“. Oder sie werden als „Sozialfälle“ abgestempelt, die von Hilfsleistungen leben. Dazwischen bleibt wenig Platz für differenzierte Betrachtungen. Dabei sind kinderreiche Familien so vielfältig, dass sie sich nicht in Schubladen stecken lassen. Und sie haben Respekt und Anerkennung verdient. Woher kommen also die Vorurteile?
Wie ist das Aufwachsen in einer Großfamilie?
Kjell Nürnberger aus Dresden ist als eins von zehn Geschwistern in einer Großfamilie aufgewachsen. Der 27-Jährige, der als Physiotherapeut arbeitet und Sportwissenschaften studiert, hat das Aufwachsen mit vielen Geschwistern als etwas Gutes wahrgenommen. Auch von seinem Umfeld seien die Reaktionen auf die Großfamilie eher positiv ausgefallen, erzählt Kjell im change Interview: „Ich habe an den Reaktionen von außen schon früh gemerkt, dass es etwas Besonderes ist, viele Geschwister zu haben. Oft kam die Frage, ob wir alle von den gleichen Eltern stammen oder wie groß unser Haus denn sei. Ich habe dann geantwortet, dass wir in einer normalen Wohnung wohnen, mit zwei Kinderzimmern, und je nachdem, wie viele von uns gerade zu Hause gewohnt haben, haben wir uns dann auf die Zimmer aufgeteilt.“
Deutschland ist ein kinderarmes Land
Deutschland ist dringend auf Familien mit mehreren Kindern angewiesen. Denn wie fast überall auf der Welt schrumpft auch hier die Bevölkerung und wird gleichzeitig immer älter. Die geburtenstarken Jahrgänge der sogenannten Babyboomer gehen allesamt demnächst in Rente. Damit gerät der Generationenvertrag mehr und mehr in Gefahr: Die Generationen nach den Boomern waren längst nicht so geburtenstark, weshalb in den nächsten Jahren verhältnismäßig wenige junge Menschen für die Renten von verhältnismäßig vielen älteren Menschen aufkommen müssen. Damit der Generationenvertrag nicht in eine Schieflage gerät, braucht es Nachwuchs – und je mehr, desto besser, könnte man sagen.
Mehrkindfamilien sind besonders armutsgefährdet
Mehrkindfamilien sind im Durchschnitt besonders armutsgefährdet oder leben unterhalb der Armutsgrenze. Vielen ist es kaum möglich, Geld zu sparen, um sich beispielsweise ein finanzielles Netz für mögliche Krisenzeiten zu spannen. Kinderreiche Familien haben logischerweise deutlich mehr Ausgaben als Familien mit nur ein oder zwei Kindern, trotzdem wird ihnen vom Staat kaum zusätzlich finanziell unter die Arme gegriffen. Als Resultat ist bei vielen das Geld knapp. Gleichzeitig steigt mit zunehmender Kinderzahl das Armutsrisiko. Knapp ein Drittel aller Paarfamilien mit drei und mehr Kindern gelten als „einkommensarm“, 17,7 Prozent beziehen Sozialleistungen vom Staat. Bei Alleinerziehenden mit drei und mehr Kindern sind es sogar 86,2 Prozent.
Ein Ausflug in den Freizeitpark ist für viele unerschwinglich
Eine Teilnehmende an einer Studie der Bertelsmann Stiftung zum Thema Mehrkindfamilien in Deutschland berichtet: „Wenn man einen Ausflug in den Freizeitpark macht, ist der natürlich gleich wahnsinnig teuer mit so vielen Leuten. Wir haben 330 Euro nur für den Eintritt bezahlt.“ So geht es vielen kinderreichen Familien, die jeden Euro zweimal umdrehen müssen. Doch nicht nur die Freizeitgestaltung ist für Mehrkindfamilien eine Herausforderung.
Auch Kjell Nürnberger erzählt, dass er sich – anders als Freund:innen mit weniger Geschwistern – in seiner Kindheit manche Dinge nicht habe leisten können. Trotzdem sieht er auch, dass es von staatlicher Seite für seine Familie Hilfen gab: „Es gab schon viel Unterstützung, nicht nur Kindergeld, sondern auch soziale Hilfen. Um die finanzielle Organisation hat sich hauptsächlich mein Vater gekümmert, ich selbst habe kaum mitbekommen, ob es finanzielle Schwierigkeiten gab. Ich kann mir auch vorstellen, dass mein Vater das absichtlich von uns ferngehalten hat, damit wir uns keine Sorgen machen.“
Teste dein Wissen: Wie gut kennst du dich in Sachen Mehrkindfamilien aus?
Eine Zerreißprobe für Großfamilien: Die Coronapandemie
Gerade die mit der Coronapandemie verbundenen Lockdowns und Schulschließungen waren für Familien mit vielen Kindern schwierig: Drei oder mehr Kinder die ganze Woche über beim Homeschooling zu betreuen, sich gleichzeitig noch um Haushalt und unter Umständen einen eigenen Job zu kümmern – das geht an die Substanz. Viele Familien, die eh schon in beengten Verhältnissen wohnen, mussten noch näher zusammenrücken. Das zeigte auch, wie wichtig familienfreundliches Wohnen (nicht nur) in Krisenzeiten ist.
Immer wieder mit Vorurteilen und Anschuldigungen konfrontiert
Doch Mehrkindfamilien haben nicht nur mit finanziellen und organisatorischen Schwierigkeiten zu kämpfen: Auch von außen werden sie immer wieder mit Anschuldigungen und Vorurteilen konfrontiert. Einige Teilnehmende an der Studie der Bertelsmann Stiftung berichteten beispielsweise, dass ihnen während der Coronapandemie in Supermärkten immer wieder vorgeworfen worden sei, dass sie hamsterten. Dabei tätigten sie nur ihren gewohnten Wocheneinkauf für die Großfamilie.
Die Leistungen der Eltern anerkennen und nicht abwerten
Von den Vorurteilen gegenüber Mehrkindfamilien hast du nun schon einige gelesen. Doch selbst wenn es sie nicht gäbe, wäre immer noch ein gesellschaftliches Umdenken nötig. Denn es braucht eine aktive Wertschätzung für Eltern von vielen Kindern. Sie investieren viel Zeit, um Kinder großzuziehen.
Oft stellen sie ihre eigenen Karrierepläne und ihre finanzielle Sicherheit hinten an, weil sich der Alltag und die mit vielen Kindern verbundenen Care-Aufgaben anders nicht bewältigen lassen. So sind beispielsweise nur 34,6 Prozent der Frauen mit drei oder mehr Kindern erwerbstätig.
„Meine Mutter wollte sich eigentlich zu Hause um uns Kinder kümmern, das war ihr Ding. Als die Altersabstände zwischen meinen jüngeren Geschwistern dann größer wurden, wurde sie seitens des Arbeitsamtes aufgefordert, wieder zu arbeiten, obwohl ja ein Elternteil zu Hause wirklich vonnöten war.“
– Kjell Nürnberger, eins von zehn Geschwistern
Kjell Nürnbergers Mutter kümmerte sich um die Kinder, während Kjells Vater als Musiker selbstständig war. Sie habe vor allem gestört, dass sie dem Amt immer wieder Nachweise über die familiäre Situation erbringen musste. Mit zunehmendem Alter der Kinder reichte das Geld vom Amt dann nicht mehr aus: „Meine Mutter wollte sich eigentlich zu Hause um uns Kinder kümmern, das war ihr Ding. Als die Altersabstände zwischen meinen jüngeren Geschwistern dann größer wurden, wurde sie seitens des Arbeitsamtes aufgefordert wieder zu arbeiten. Da war es teilweise schwer das zu Hause bleiben zu rechtfertigen ohne Nachteile bei den Sozialleistungen zu erfahren, obwohl ja ein Elternteil zu Hause wirklich vonnöten war bei so vielen Kindern.“
Jetzt eine Kindergrundsicherung einführen!
Abgesehen von Anerkennung für ihre Leistungen braucht es für diese Eltern auch Unterstützung jenseits von symbolischen Handlungen: Über eine Kindergrundsicherung könnte das Heranwachsen jedes einzelnen Kindes finanziell gesichert werden – egal ob es sich dabei um ein Einzelkind oder das siebte Kind einer Großfamilie handelt.
Geeigneten Wohnraum für kinderreiche Familien schaffen
Außerdem muss von der Politik sichergestellt werden, dass es auch für Großfamilien ausreichenden und bezahlbaren Wohnraum gibt. Gerade in Zeiten von Wohnungsknappheit und steigenden Mieten ist es für Familien mit besonderen Bedürfnissen oft schwer, Wohnungen zu finden – besonders solche, die gut an die nötige Infrastruktur wie Kitas, Schulen oder Einkaufsmöglichkeiten angebunden sind.
Auch Mütter und Väter brauchen Fürsorge und Erholung
Doch mit dem Erfüllen von materiellen Grundbedürfnissen ist es nicht getan. Zum glücklichen Aufwachsen von Kindern gehört noch viel mehr. Eltern mit vielen Kindern müssen die Möglichkeit bekommen, sich um die emotionalen Bedürfnisse jedes einzelnen Kindes zu kümmern, genauso wie Eltern mit wenigen Kindern. Was dabei oft vergessen wird: Mütter und Väter haben auch eigene Bedürfnisse. Sie sind keine Maschinen, sondern brauchen ebenso Fürsorge und Erholung. Laut einer Studie des Deutschen Gewerkschaftsbundes können sich drei Viertel der Mütter von minderjährigen Kindern nicht ausreichend erholen.
Worauf warten wir noch?
Ein Leben am Abgrund des Burnouts sollte in einer gerechten Gesellschaft nicht die Regel sein. Einen kleinen Beitrag können wir alle leisten, um kinderreichen Familien nicht noch mehr Steine in den Weg zu legen. Vielleicht hast du dich beim Lesen des ein oder anderen Vorurteils ertappt gefühlt? Die eigenen Vorurteile zu reflektieren und zu hinterfragen, warum man so denkt, ist ein guter Anfang. Vielleicht steht am Ende dieses Denkprozesses ein besserer Umgang miteinander. Aber auch die Entscheider:innen auf vielen politischen Ebenen stehen in der Pflicht, Mehrkindfamilien besser zu unterstützen. Es braucht eine gerechtere Verteilung von Ressourcen – nicht nur in finanzieller, sondern auch in emotionaler und zeitlicher Hinsicht.
Ein gutes Verhältnis bis ins Erwachsenenalter
Kjell Nürnberger ist heute froh um seine vielen Geschwister, zu denen er auch als Erwachsener noch ein gutes Verhältnis hat: „Meine Geschwister sind mittlerweile über ganz Deutschland verteilt. So habe ich immer wieder die Möglichkeit, sie zu besuchen, eine neue Stadt kennenzulernen und ein schönes Wochenende zu verbringen. Wir haben unsere Beziehungen zueinander im Erwachsenenalter stark weiterentwickelt. Heute nehme ich die individuelle Seite meiner Geschwister viel stärker wahr als in meiner Kindheit und Jugend und kann sie teilweise noch mal ganz neu kennenlernen.“
Familien unterstützen und ihre Vielfalt anerkennen: Das ist ein zentrales Anliegen der Bertelsmann Stiftung. In der Studie „Mehrkindfamilien gerecht werden. Bedarfe im Alltag von Familien mit drei und mehr Kindern“ wird deshalb die Lebensrealität von Mehrkindfamilien aufgezeigt. Mögliche Verbesserungsvorschläge gibt’s gleich dazu. Jetzt reinlesen oder Factsheet nutzen!