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change Magazin – Das Magazin der Bertelsmann Stiftung

So liest sich Literatur aus Krisen- & Kriegsgebieten

Postkarten und Briefe liegen auf einem Tisch Almut Elhardt

Wann hast du das letzte Mal einen Brief geschrieben?

  • Almut Elhardt
  • 21. Juli 2020

Jeden Tag schicken wir uns Nachrichten: private Chats und Sprachnachrichten, berufliche E-Mails, Notizen für unsere Mitbewohner*innen. Doch was ist eigentlich aus dem guten alten Brief geworden? Das Projekt „(W)Ortwechseln“ zeigt, welche Schönheit in Briefwechseln liegen kann. Kann Schreiben die Welt verändern?

Während die Welt jetzt im Händewaschen vereint ist
wie Verbrecher, die sich von ihrer Tat reinigen wollen,
schreibe ich Dir und trage dabei Handschuhe.
Und weil in unserer Stadt Frauen nicht an die Flüsse treten dürfen,
werde ich den Aquarienfischen erzählen,
dass ich auf meinen Wegen Dichter traf, die Metren und Reime aus dem Müll sammelten.

So beginnt ein Brief der iranischen Autorin Mariam Al-Attar an die deutsche Autorin Sabine Scholl. Es ist einer von vielen Briefen, die im Rahmen des Projekts „(W)Ortwechseln“ entstanden sind.

#weiterschreiben: Geflüchtete Schriftsteller*innen finden ein neues Zuhause

Die Briefwechsel zwischen Autor*innen aus unterschiedlichsten Ländern ist eine Initiative des Portals „Weiter Schreiben“, mitgegründet von der Schriftstellerin Annika Reich. Die Idee: Geflüchtete Autor*innen aus Krisen- und Kriegsgebieten sollen weiterschreiben und eine neue literarische Heimat finden können. Seit 2017 werden auf dem Portal monatlich zwei bis vier Texte veröffentlicht, jeweils in der Originalsprache und auf Deutsch.

Sechs Korrespondenzen von Autor*innenpaaren

In klassischen Briefen, auf Bierdeckeln, Postkarten, analog und digital schreiben sich Autor*innen aus dem Iran, Irak, Russland, Kroatien, Syrien und Georgien mit ihren Kolleg*innen in Deutschland. So entsteht nicht nur ein persönlicher Austausch, sondern auch ein künstlerischer:
 

„In der Tat kann ich es kaum ertragen, nur ein Zeuge dessen zu sein, was hier vor sich geht. Also habe ich mich für das Schreiben entschieden. Ich schreibe alles auf, was ich sehe, ich notiere Fakten, widerspreche poetischen Formen, damit ich nicht das Labyrinth von Fragen und Antworten betreten muss.“

„Einsam kommt der Mensch zur Welt und verlässt sie genauso einsam, aber ich teilte meine Einsamkeit mit dem Ort. Ich bin Nachfahrin einer langen Migrationskette, und jener Ort ist es ebenso. Dass die Pflastersteine sich sammeln, um ein Haus zu formen, ist genauso eine Migration.“

„Also, heute habe ich eine Karikatur gesehen, in der einer der mythischen Götter mit einem verängstigten Gesicht aus den Wolken heraus einem Menschen ein Desinfektionsgel gegeben hat. Vielleicht ist Humor das, was wir jetzt dringend brauchen, besonders heutzutage. Im Iran tanzen Ärzte und Krankenschwestern, trotz Sanktionen, Mangel an medizinischer Ausrüstung und täglichen Toden, um die Stimmung der Patienten zu heben.“

„Jetzt beim Schreiben fällt mir auf, dass ich ja doch noch längere Sätze hinbekomme. Nur brauche ich offenbar eine andere Form dafür, zum Beispiel Briefe schreiben.“


Die Autor*innen im Podcast-Portrait

Die Briefe und ihre Verfasser*innen kann man auch hören: rbbKultur stellt die Mitwirkenden in einem Podcast vor. Ein wichtiges Projekt, findet auch FAZ-Journalistin Anna Vollmer: „Lesen wir sonst immer nur über die Menschen, die zu uns flüchten, kommen sie hier endlich zu Wort.“ Alle Briefe gibt es hier zum Nachlesen: weiterschreiben.jetzt/wortwechseln

Vielfalt macht uns stark! Das Projekt „Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ der Bertelsmann Stiftung setzt sich ein für ein gelingendes Miteinander.