Geflüchtete geben Stadtführungen – und zeigen, wie vielfältig Fluchtursachen sind
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Refugee Voices Tours
- 21. Oktober 2022
Das Projekt „Refugee Voices Tours“ veranstaltet Stadtführungen, die von Geflüchteten geleitet werden. Sie verknüpfen europäische Geschichte mit Fluchtursachen. Das lässt keine:n der Teilnehmenden kalt.
Warum flüchten Menschen? Was hat der Krieg in Syrien mit Berlin zu tun? Und was können Menschen ohne Fluchthintergrund tun, um den Geschichten Geflüchteter mehr Gehör zu verschaffen? change sprach mit Mohamad, einem Projektleiter der „Refugee Voices Tours“. Seine Mission: Menschen zum Hinschauen bewegen.
Das Projekt „Refugee Voices Tours“
… wurde 2015 von Geflüchteten und Aktivist:innen mit dem Ziel gegründet, Verständnis dafür zu schaffen, warum so viele Menschen ihre Heimatländer verlassen und nach Deutschland flüchten. Bei den Stadtführungen durch Berlin wird europäische Geschichte mit der persönlichen Geschichte und den Erfahrungen der Geflüchteten verknüpft, die die Führungen leiten. Neben Berlin bietet „Refugee Voices Tours“ mittlerweile auch Führungen durch Kopenhagen und Madrid an.
change | Wie ist „Refugee Voices Tours“ entstanden, was waren eure Gedanken hinter dem Projekt?
Mohamad | Lorna Cannon, die Gründerin von „Refugee Voices Tours“, war 2013 und 2014 an einer Bewegung beteiligt, die sich für die Rechte von Geflüchteten einsetzte. Ausgehend von ihren Erfahrungen in der Bewegung, hat Lorna die Idee für die Stadtführungen entwickelt. Die erste Tour hieß „A Journey Through the Refugee Rights Movement“. Sie wurde von Lorna und zwei Geflüchteten organisiert und erzählte von deren Flucht nach Deutschland.
Für die Touren zieht ihr Parallelen zur europäischen Geschichte mit all ihren Revolutionen, Kriegen und Migrationsbewegungen. Was kann uns das über Flucht im 21. Jahrhundert beibringen?
Nachdem ich Lorna kennengelernt und von den Touren erfahren habe, hat mich die Idee dahinter sehr berührt. Besonders nachdem ich erfahren hatte, dass es den Aktivist:innen, die sich für die Rechte von Geflüchteten eingesetzt haben, tatsächlich gelungen ist, das deutsche Asylrecht zumindest teilweise zu verändern. Durch meine Beteiligung an dem Projekt möchte ich außerdem auf die Situation in meinem Heimatland Syrien aufmerksam machen. Allerdings macht es keinen Sinn, bei einer Tour durch Berlin nur über Syrien zu sprechen. So ist die Verbindung zur europäischen Geschichte entstanden. Unser Ziel ist es, zu erreichen, dass sich die Menschen aus Europa besser in unsere Situation hineinversetzen können. Dadurch möchten wir das Stigma lösen, dass die Situation in Syrien nur ein weiterer Konflikt im Mittleren Osten ist, den man hierzulande einfach ignorieren kann. Wir wollen die Menschen dazu bringen, hinzuschauen.
In welchen Städten bietet ihr die Touren momentan an?
Zurzeit haben wir Teams in Berlin, Kopenhagen und Madrid.
In den deutschen Medien ist oft nur die Rede von der sogenannten „Flüchtlingskrise“. Dabei bleibt unerwähnt, dass viele Geflüchtete gezwungen waren, ihre Heimatländer zu verlassen. Wie kann „Refugee Voices Tours“ es schaffen, diese Sichtweise zu ändern?
Unser Hauptanliegen ist es, zu zeigen, wie viele verschiedene Fluchtgründe es für Menschen gibt. Wir fokussieren uns bei den Touren meistens darauf, warum Menschen sich zur Flucht entschieden haben, und nicht darauf, wie sie geflüchtet sind. Ich gehe also hauptsächlich auf den Entscheidungsprozess ein, der mich dazu gebracht hat, Syrien zu verlassen. Wir binden sowohl Statistiken in die Tour mit ein als auch persönliche Geschichten, damit die Menschen unsere Entscheidungen besser nachvollziehen und verstehen können.
„Unser Hauptanliegen ist es, zu zeigen, wie viele verschiedene Fluchtgründe es für Menschen gibt.“
– Mohamad, „Refugee Voices Tours“
Ihr bietet auch praktische Workshops an. Worum geht es dabei und was soll daraus entstehen?
Wir bieten zwei unterschiedliche Workshops an. Einer heißt „In Someone Else's Shoes“. Dabei simulieren wir eine ähnliche Situation wie in Syrien für Europa und lassen die Teilnehmenden entscheiden, wie sie sich in so einem Fall verhalten würden. Der Workshop ist in verschiedene Phasen aufgeteilt: vom Übergang einer Demokratie in ein autoritäres Regime, dem Aufkommen von Protesten gegen das Regime bis hin zum Ausbruch eines Bürgerkriegs. In allen Phasen müssen die Teilnehmenden Entscheidungen fällen, die auf gesellschaftlichem Druck und persönlichen Herausforderungen basieren.
Der zweite Workshop, den wir anbieten, ist unser Volunteering-Workshop. Er wird von einem Kollegen geleitet, der während des syrischen Bürgerkriegs freiwillig beim Roten Kreuz vor Ort gearbeitet hat. Nach einiger Zeit war er selbst gezwungen, aus Syrien zu fliehen. Die Idee hinter diesem Workshop ist, den Teilnehmenden die Perspektive von jemandem näherzubringen, der sich sowohl selbst freiwillig engagiert als auch später als Geflüchteter in Deutschland freiwillige Hilfe von anderen in Anspruch genommen hat. Mittlerweile engagiert er sich auch in Deutschland selbst wieder freiwillig.
Euer Engagement trägt sichtbar Früchte: „Refugee Voices Tours“ wurde mit dem „Lonely Planet Best in Travel 2021 Award“ ausgezeichnet. Herzlichen Glückwunsch! Hat das dem Projekt geholfen, mehr Aufmerksamkeit zu bekommen?
Als wir den Award bekommen haben, hatten schon viele Medien über uns berichtet. Trotzdem war die Auszeichnung definitiv hilfreich, um die kommerzielle Seite der Tourismusindustrie zu erreichen. Leider haben uns die Lockdowns während der Coronapandemie in den letzten beiden Jahren einen ziemlichen Schlag versetzt.
Und trotzdem habt ihr auch während dieser Zeit weitergemacht.
Ja, mit digitalen Touren. Prinzipiell sind das die gleichen Touren, wie wir sie auch in der Stadt anbieten, nur etwas umstrukturiert, um sie besser für das Onlinepublikum zugänglich zu machen.
Habt ihr euch von der Coronakrise erholen können?
Mittlerweile geht es wieder etwas besser, aber durch die Inflation und den Krieg in der Ukraine ist das immer noch ein eher langsamer Prozess.
Weiterhin viel Erfolg und vielen Dank für das Gespräch!
Wegen Überalterung und Fachkräftemangel ist die deutsche Gesellschaft auf Zuwanderung angewiesen. Mit dem Projekt „Migration fair gestalten“ setzt sich die Bertelsmann Stiftung dafür ein, dass das Ankommen in Deutschland für Zugewanderte, die Aufnahmegesellschaft und die Herkunftsländer gerecht umgesetzt wird (Triple Win).