Jeder fünfte Deutsche kann mehr, als auf dem Papier steht – und verdient oft zu wenig
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- Mai 2018
In deutschen Unternehmen arbeiten Menschen mit und ohne formale Qualifizierung häufig an denselben Aufgaben. Das Problem: Wer kein Zeugnis hat, kriegt oft weniger Gehalt. Dabei würde eine Anerkennung Quereinsteigern und Arbeitgebern zugutekommen.
Es zieht sich durch alle Berufsschichten und Hierarchien: Welcher Abschluss auf dem Papier steht, entscheidet in vielen Fällen noch immer über die Gehaltsklasse. Trotzdem üben Handwerksgesellen oft die Tätigkeiten von Meistern aus. Mitarbeiter ohne formale Qualifizierung erledigen die Aufgaben von Akademikern. Doch diese kompetenten Quereinsteiger werden häufig schlechter bezahlt als ihre Kollegen mit dem „richtigen“ Titel.
Eine Studie der Bertelsmann Stiftung bestätigt das: Geringqualifizierte verdienen neun Prozent weniger als ihre Kollegen mit abgeschlossener Ausbildung – obwohl sie dieselbe Arbeit erledigen. In Jobs, die eigentlich ein Diplom oder einen Master verlangen, liegen die Abschläge sogar bei elf Prozent.
Quereinstieg: Absprung auf den letzten Metern
Das kommt vor allem durch moderne Arbeitsbiografien: Quereinsteiger ohne Abschluss erhalten oft ein ganz konkretes Training am Arbeitsplatz, was sie für ihre Aufgaben ähnlich befähigt wie ein allgemeineres Studium oder eine Ausbildung. Aus Mangel an Fachkräften stellen viele Unternehmen Mitarbeiter ein, die auf dem Papier nicht die notwendigen Qualifikationen mitbringen.
Ahmad Tahir
… kocht seit zwei Jahren in Vollzeit und mit Leidenschaft. Dabei ist der irakische Kurde, der Anfang 2015 nach Deutschland geflohen ist, kein ausgebildeter Koch – noch nicht. „Im Libanon gibt es so etwas nicht“, sagt er.
Doch Tahir hatte Glück, denn sein Arbeitgeber, eine Gastronomie in Witten an der Ruhr, ließ sich etwas einfallen: Seit September 2017 ist er in Ausbildung zum Fachwirt für Gastronomie. Dabei lernt er die Grundlagen für Küche, Service, Verwaltung und Marketing kennen und kann gleichzeitig problemlos alle drei Monate seinen Aufenthaltsstatus verlängern.
Was für manche Menschen neue Möglichkeiten eröffnet, kann für andere auch Abstriche bedeuten: Oft nehmen Menschen die Chance auf den Quereinstieg dankend an und brechen dafür ihre Ausbildung oder das Studium ab. So berichtet Gunnar Teufert, der sich vom Krankenpfleger zum Regionalmanager eines medizinischen Geräteherstellers entwickelt hat: „Eine Woche, nachdem ich meinen Studienplatz für Medizin bekommen habe, habe ich hingeschmissen – der Grund: Prüfungsangst.“
Auch Torsten Hinrichs, heute Geschäftsführer, verzichtete auf ein wichtiges Zertifikat: Schon mit 20 Jahren bot ihm sein Chef die Werkstattleitung an. „Ich wollte erst den Meister machen. Aber der Inhaber wollte das nicht, weil er einen neuen Werkstattleiter in der laufenden Produktion brauchte. Eine Riesenchance – aber auch ein großes Risiko“, so Hinrichs.
Tipp: Auf meine-berufserfahrung.de können Quereinsteiger selbst prüfen, welche der Kriterien für einen qualifizierenden Berufsabschluss sie bereits mitbringen.
Für Teufert und Hinrichs war der Einstieg ohne formale Qualifikation ein Erfolg. Doch viele Menschen in Deutschland müssen wegen mangelnder Anerkennung ihrer Fähigkeiten Abstriche machen. Neben einem geringeren Lohn sind sie auch mit unsicheren Jobperspektiven ausgestattet. Jedenfalls dann wenn sie den Arbeitgeber, der ihnen viel zutraut, verlassen wollen oder müssen. So sind Geringqualifizierte viermal so häufig arbeitslos wie Menschen mit Berufsabschluss. Hier braucht es neue Ansätze zur Kompetenzerfassung, um allen Arbeitenden faire Chancen zu bieten.
Hohe Kompetenz, geringer Lohn?
Viele Arbeitnehmer übernehmen Aufgaben, für die sie auf dem Papier nicht qualifiziert sind. Das kann eine Weile gut gehen, ist beim Arbeitgeberwechsel aber oft problematisch:
Denn obwohl sie eine offensichtlich hohe Lernbereitschaft und besondere Fähigkeiten mitbringen, kommen sie oft nicht in die engere Auswahl, weil sie die geforderten Zertifikate nicht vorweisen können.
Die Lösung: Quereinsteiger sollten beim Ausbau ihrer Fähigkeiten unterstützt werden. Die formale Anerkennung ihrer Qualifikationen – ob als Weiterbildung oder sogar als Berufsabschluss – schafft mehr Planungssicherheit für Unternehmen und Mitarbeiter.
Mehr dazu? Die Bertelsmann Stiftung entwickelt in den Projekten Aufstieg durch Kompetenzen und Berufliche Kompetenzen erkennen Konzepte, die unterqualifizierten Fachkräften den Weg weisen. Die MYSKILLS-Tests, die in Kooperation mit der Bundesagentur für Arbeit entstanden sind, unterstützen Arbeitsuchende dabei, konkrete Fähigkeiten zu erkennen.