Kinderarmut: Was Kinder wirklich zum Glücklichsein brauchen
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Hugues de BUYER-MIMEURE – unsplash.com/license
- 22. Februar 2019 | aktualisiert: 21. August 2023
Kinderarmut ist ein altbekanntes Problem: Mehr als jedes fünfte Kind in Deutschland lebt in Armut – das sind kanpp 2,9 Millionen, Tendenz steigend.
Für zwei Drittel der Kinder ist Armut sogar ein Dauerzustand. Armut hat erhebliche Folgen für das Aufwachsen und die Zukunft von Kindern und Jugendlichen. Was muss passieren, damit alle Kinder gut leben und faire Chancen haben? change sprach mit Professorin Dr. Sabine Andresen, Projektleiterin der Studie „Children’s Worlds+“.
Professorin Dr. Sabine Andresen
... ist Pädagogin mit den Forschungsschwerpunkten Kindheit und Familie, Child-Well-Being, Vulnerabilität in der Kindheit, Armut und sexuelle Gewalt in Kindheit und Jugend. Außerdem forscht sie zu Kindheit, Jugend und Reformpädagogik im 20. Jahrhundert. Sie lehrt als Professorin an der Goethe-Universität Frankfurt/Main.
change | Dass viele Kinder in Deutschland in Armut leben, ist seit langer Zeit bekannt. Warum verändert sich nichts zum Besseren?
Das ist eine gute Frage, die mich als Kinder- und Familienarmutsforscherin sehr umtreibt. Sicherlich gibt es nicht eine einzige Antwort darauf, aber ich gewinne zunehmend den Eindruck, dass es der Politik nicht darum geht, Kinderarmut energisch zu bekämpfen. Die Politik muss Ressourcen in die Hand nehmen und umverteilen. Viele Erkenntnisse über die Ursachen von Kinderarmut sind da, aber sie werden nicht systematisch genutzt. Es fehlt eine politische Strategie und es fehlt der Wille. Ich hoffe, dass wir unter anderem mit unserer Studie dazu beitragen, einen Wandel in der Politik anzustoßen.
Welche Folgen hat Armut für Kinder und Jugendliche?
Sie werden in allen Lebensbereichen benachteiligt. Das bedeutet auch deutlich weniger Teilhabe, zum Beispiel beim Thema Bildung. Kinder und Jugendliche, die in Armut aufwachsen, können hier gar nicht alle Möglichkeiten ausschöpfen. Und Kinder lernen ja nicht nur in der Schule, sondern den ganzen Tag. Auch die Freizeitbildung kommt zu kurz, weil die Eltern zu wenig Geld haben, um zum Beispiel am Wochenende Dinge zu unternehmen. Kurz gesagt: Die Kinder können ihre Begabungen nicht frei entfalten.
Und es gibt auch emotionale Folgen: Kinder mit Armutserfahrung haben öfter soziale Ängste. Versage ich in der Schule? Werden meine Eltern wieder arbeitslos? Auch die Angst vor Gewalt spielt eine Rolle. Wenn Kinder dann dauerhaft in Armut leben, schichten sich diese negativen Erfahrungen auf.
Sie kritisieren, dass wir nicht genau wissen, was Kinder eigentlich brauchen – und fordern eine „neue Form der Sozialberichterstattung“. Was meinen Sie damit?
Wir müssen Kinder und Jugendliche regelmäßig befragen. Es gibt gute Daten darüber, was Kinder in Deutschland im Durchschnitt machen können. Daraus können wir dann ableiten, was Kindern in Armut fehlt. Bislang gibt es aber keinen am Kind beziehungsweise am Jugendlichen orientierten Standard, wenn wir über „Bedarfe“ reden. Man zieht das Existenzminimum heran, aber das ist etwas anderes, als was Kinder in dieser Phase ihres Lebens brauchen. Darum müssen uns Kinder und Jugendliche selbst sagen, was sie für ein ausreichend gutes Leben brauchen. Das ist die neue Form der Sozialberichterstattung.
Welches Ergebnis oder welche Aussage der Kinder und Jugendlichen hat Sie am meisten bewegt?
Bewegt hat mich generell die Bereitschaft der Kinder und Jugendlichen, sich befragen zu lassen. Es ist eindrucksvoll, wie sie ihre Sorgen, Eindrücke und Kritik in Sprache fassen. Dass sich viele Sorgen machen, wie die Familie finanziell dasteht, hat mich sehr bewegt. Was mich ebenfalls betroffen gemacht hat, ist zu sehen, wie Kinder mit dem Alter immer weniger glauben, Gehör zu finden. Es geht ja nicht nur um materielle Absicherung, sondern auch um Mitgestaltung und Mitsprache. Hier werden die Kinder teilweise pessimistisch, und das beschäftigt mich sehr.
Wenn Sie sofort einen Drei-Punkte-Plan zur Bekämpfung von Kinderarmut verabschieden könnten, wie sähe der aus?
1. Kinder und Jugendliche müssen Anrecht auf ein Einkommen haben, das ihnen eine gute Entwicklung ermöglicht – unabhängig von der Familie. Ich sage bewusst „unabhängig“ und nicht getrennt. Das Teilhabegeld wäre da eine sehr gute Möglichkeit oder zu prüfen, wie sich eine „Kindergrundsicherung“ realisieren ließe.
2. Kinder und Jugendliche einbeziehen und befragen. Wir müssen ihre Bedarfe systematisch erheben. Nur so können wir uns in Politik und Gesellschaft darüber verständigen, was eine gute Kindheit ist – und damit sicherstellen, dass Kinder und Jugendliche, deren Eltern zum Beispiel arbeitslos sind, nicht davon ausgeschlossen werden.
3. Es braucht gute Anlaufstellen. Kinder und Jugendliche brauchen Orte, an denen sie sich mit Gleichaltrigen und Erwachsenen austauschen können, die sie unterstützen und beraten. Und auch für die Eltern braucht es eine zentrale Anlaufstelle, die schnell und unbürokratisch berät und hilft.
Vielen Dank für das Gespräch.
Mehr dazu? Die Bertelsmann Stiftung erforscht, was Kinder zu einem guten Aufwachsen brauchen. Zur Studie „Children’s Worlds+“ geht es hier.