Gute Nachrichten aus der Krise: Zwei Forscherinnen ziehen Bilanz
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Sabina Paries
- 30. Juni 2021
change Autor Jo Berlien hat die Frankfurter Konfliktforscherin Nicole Deitelhoff und die Göttinger Soziologin Natalie Grimm interviewt und mit ihnen über den gesellschaftlichen Zusammenhalt gesprochen. Wie steht es um die Solidarität und den Gemeinschaftssinn in Deutschland? Was hat über ein Jahr Ausnahmezustand verändert? Was gibt uns Hoffnung? Hier lest ihr das Interview in Kurzfassung.
Gute Nachrichten aus der Krise? Aber ja! Die Gesellschaft in Deutschland erweist sich als robust. „Lieber streite ich nochmals zwölf Monate mit Corona-Leugner:innen, bevor ich gar nicht mehr streiten darf“, sagt die Konfliktforscherin Nicole Deitelhoff. „Es ist doch gut, dass wir die Demokratie wieder ernsthaft auf den Prüfstand stellen. Dass wir uns ernsthaft Gedanken machen, was sie uns bedeutet.“
Corona als Brennglas für bestehende Probleme
Soziologin Natalie Grimm ist froh, dass die Krise strukturelle Defizite offenlegt: „Endlich! Die skandalösen Zustände in der Fleischindustrie wurden über Jahre hinweg ignoriert. Dringlicher als jede politische Agenda macht die Krise klar: Gesellschaft ist gestaltbar, Ungleichheit veränderbar! Politik muss Versprechen einlösen und Pflegekräfte besser entlohnen. Und die Kassiererin wertschätzen, die in Zeiten von Kontaktbeschränkungen an der Corona-Front sitzt.“ Wer verhindern wolle, dass die Gesellschaft auseinanderdriftet, müsse Abgrenzung, Entfremdung und Missverstehen unter sozialen Gruppen vorbeugen und für ein Klima sorgen, in dem milieuübergreifend geredet, gearbeitet, gefeiert wird.
Ein Spagat ist erst dann gut, wenn er wehtut
Fragt man Prof. Deitelhoff, ob Deutschland den Spagat zwischen Gemeinwohl und individueller Freiheit geschafft habe, sagt sie: „Das ist wie beim Spagat: Er ist nur dann gelungen, wenn es kräftig wehtut. Die Politik, so mein Eindruck, hat das ganz gut hinbekommen. Sie macht es sich nicht leicht, das muss auch so sein.“
Nicole Deitelhoff (li.) und Natalie Grimm (re.) ...
… standen change Autor Jo Berlien für dieses Interview Rede und Antwort.
Prof. Dr. Nicole Deitelhoff ist Politikwissenschaftlerin und Konfliktforscherin und leitet in Frankfurt am Main das Leibniz-Institut Hessische Stiftung Friedens- und Konfliktforschung (HSFK). Sie ist Sprecherin des Forschungsinstituts Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) und leitet dort den Ausschuss Transfer.
Dr. Natalie Grimm ist Soziologin und stellvertretende Sprecherin des Standorts Göttingen im Forschungsinstitut Gesellschaftlicher Zusammenhalt (FGZ) am Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen (SOFI).
change │ Frau Prof. Deitelhoff, Sie untersuchen, wie Konflikte Zusammenhalt stabilisieren oder gar befördern können – welche Antworten haben Sie?
Eine banale Antwort lautet: Wir müssen Konflikte austragen. Auch wenn ein Konflikt uns zunächst auseinanderzureißen droht, werden in ihm auch immer wieder soziale Bande erneuert, sogar neu geknüpft. Verdrängen wir Konflikte, wachsen Zorn und Entfremdung. Dann sinkt das Zutrauen zueinander.
Wie heftig darf man sich zoffen?
Ein Konflikt darf nicht systematisch eine Seite demütigen oder gar im Kampf degenerieren. Wir müssen Verfahren und Institutionen haben, die uns helfen, Konflikte so zu führen, dass wir danach immer noch Respekt und Zutrauen vor- und zueinander haben, um miteinander in einer Gesellschaft leben zu wollen.
Studien der Bertelsmann Stiftung zeigen, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt in der Corona-Krise gestiegen ist. Überrascht Sie das?
Überhaupt nicht. Am Anfang rücken die Menschen zusammen. Die Verunsicherung ist groß. Es gibt genau zwei Bewegungen: horizontal zueinander, man rückt zusammen, und vertikal, man guckt nach oben, man erwartet, dass die Regierung tätig wird und Lösungen vorschlägt. Je länger eine Krise andauert, desto mehr lässt das nach. Die Krise wird zum Normalzustand, egoistische Motive drängen wieder nach vorne. In Krisen ohne fixen Endpunkt lässt die Solidarität mit der Zeit ebenso nach wie die Befolgung staatlicher Vorgaben.
Jugendliche und junge Erwachsene gelten als Verlierer:innen der Krise. Teilen Sie die Befürchtungen?
Die Krise hat viele Verlierer:innen, dazu gehören Kinder, Jugendliche, Heranwachsende, aber auch die Alten, die sozial Schwachen und Benachteiligten. Es ist, finde ich, ein komplett leeres Argument, eine bestimmte Gruppe herauszugreifen. Diese Gruppen sind ja auch nicht homogen: Nicht alle Kinder werden Verlierer:innen im Lockdown sein, solche, die die Ressourcen im Elternhaus haben, werden womöglich profitieren. Das lässt sich für andere Gruppen auch durchexerzieren.
„Die Aufgabe muss sein, politisch gesprochen, niemanden zurückzulassen.“
– Prof. Dr. Nicole Deitelhoff, Politikwissenschaftlerin und Konfliktforscherin
Die Zivilgesellschaft in Deutschland erscheint stabil. Wo drohen Konflikte, Gefahren?
Wenn man sich die Daten der Bertelsmann Stiftung anschaut: Man sieht, dass jene, die sich vorher als benachteiligt gesehen haben oder ökonomisch und sozial schwächer aufgestellt sind, nun auch systematisch geringere Werte aufzeigen, wenn man sie nach Zusammenhalt fragt. Darauf muss die Politik sehr genau schauen. Die Aufgabe muss sein, politisch gesprochen, niemanden zurückzulassen. Und die vollmundigen Versprechen, die man gemacht hat, etwa die Bonuszahlungen an das Pflegepersonal, die müssen eingelöst werden. Besser noch: Wir brauchen substanzielle Restrukturierungen in ganzen Arbeitsbereichen, die die Erfahrungen der Pandemie aufnehmen.
change │ Frau Dr. Grimm, was erforschen Sie zurzeit?
Wir erforschen das soziale Miteinander in der Gesellschaft und konkrete Praktiken des Zusammenhalts. Dafür haben wir in Nord und Süd, in Ost und West, auf dem Land und in Städten fünf Orte ausgewählt und führen sehr ausführliche Interviews mit Personen aus unterschiedlichen sozialen Schichten. Also mit Erwerbslosen, Studierenden sowie Richter:innen, Reinigungskräften oder Ingenieur:innen. Uns interessieren ihre Sicht der Dinge und ihre subjektiven Erfahrungen. Wir begleiten die Menschen über mehrere Jahre, befragen sie in regelmäßigen Abständen. Wir schauen auf ihre Umstände: Arbeitsplatzwechsel, Heirat, Kinder, Umzug. Wie ändern sich Wertvorstellungen und eigenes Handeln, wenn sich die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen ändern?
Was haben Sie herausgefunden? Wie blicken die Menschen auf die Gesellschaft?
Das hängt stark davon ab, in welcher sozialen Position sie sich befinden. Den Zusammenhalt in Familie, Freundeskreis, im Verein erleben die Befragten als sehr stabil. Wir sehen hier viel Solidarität und auch Loyalität – zum Beispiel gegenüber Arbeitgebenden in kleinen Betrieben. Man macht Überstunden und bekommt im Gegenzug einen Gehaltsvorschuss, wenn man mal knapp bei Kasse ist.
Und der Blick aufs Ganze?
Da sieht es anders aus. Bei vielen, die mit unsicheren Arbeits- und Lebensverhältnissen konfrontiert sind, ist der Blick sehr auf das Eigene gerichtet. Man muss sich um sich selbst kümmern. Das erinnert an eine negative Individualisierung.
Was stärkt uns als Menschen?
Persönliche Beziehungen. Die Pandemie hat alte Spaltungslinien wieder aufgemacht. Die Anzugs- und Kostümfraktion flüchtet sich ins Homeoffice, die Blaumannfraktion muss dableiben! Das ist wirklich ein Problem. Es muss Begegnungen zwischen den Berufsgruppen geben.
„Wir können entscheiden, was die systemrelevanten Berufe sind. Wer verdient mehr Lohn? Es ist gestaltbar, wir müssen nicht stecken bleiben.“
– Dr. Natalie Grimm, Soziologin
Was stärkt die Gesellschaft?
Gleichwertige Lebensverhältnisse in allen Regionen. Öffentliche Güter, eine öffentliche Daseinsvorsorge, eine gute öffentliche Infrastruktur – dies muss für alle erreichbar sein. Wenn die Kassiererin merkt: Es wird anerkannt, dass ich mich einer Gefahr aussetze, ich bekomme dafür mehr Lohn, dann könnte dies eine Spaltung verhindern. Hier sind Arbeitgebende, die Politik und Gewerkschaften gefragt. In der Fleischindustrie gibt es seit Jahren Forschungen und Initiativen, die auf Missstände hinweisen. Aber niemand hat zugehört. Diese Missstände kommen jetzt ans Licht. Das muss jetzt Konsequenzen haben.
Was macht Ihnen Hoffnung?
Dass Gesellschaft gestaltbar ist. Wir können neu entscheiden, welche Arbeit uns wie viel wert ist. Wir können entscheiden, was die systemrelevanten Berufe sind. Wer verdient mehr Lohn? Es ist gestaltbar, wir müssen nicht stecken bleiben. Wenn es eine gerechtere Verteilung von Löhnen gibt und es gelingt, Lebensverhältnisse anzugleichen, kann ich mir gut vorstellen, dass es mit dem Zusammenhalt wieder besser klappt.
Früher war alles besser? Das Projekt „Gesellschaftlicher Zusammenhalt“ der Bertelsmann Stiftung untersucht unter anderem, ob das stimmt. Im Podcast „Zukunft gestalten“ geht es um den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Zeiten von Corona. Hier reinhören!